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Die Sommerzeit-Diskussion ist ein Paradebeispiel für Karl Valentins Erkenntnis: "Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen."
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Welches Zeitsystem in der EU künftig auch zur Anwendung kommt, es bleibt der Rhythmus, bei dem jeder mitmuss: Entweder pendeln die EU-Staaten weiterhin synchron vor und zurück, oder sie bereiten ihm gemeinsam ein Ende. Etwaige Koordinierungsprobleme sollen nicht den Binnenmarkt behindern. Welches System bevorzugt wird, fragt die Kommission nun per Onlineformular die Unionsbürger und folgt damit einer Entschließung des EU-Parlaments. Die weiterführende Frage, ob nach einem Aus der Zeitumstellung permanente Sommerzeit oder dem Sonnenstand entsprechende "Winterzeit" gelten soll, lässt mehr Spielraum zu: Es kann ohnehin jeder Staat entscheiden, welcher geografischen Zeitzone er angehören möchte.

Die verpflichtende Anmeldung per Name und E-Mail-Adresse soll Verzerrungen vorbeugen, immerhin wird aber die Option angeboten, dass die Daten nur in anonymisierter Form veröffentlicht werden dürfen. Die Befragung hat keinen verbindlichen Charakter, es soll ein Meinungsbild erhoben werden. So kann man in einem Textfeld Argumente aufzählen und auf einer Skala von null bis zehn eintragen, wie stark man sich vom Thema betroffen fühlt. Tendenziell wohl "sehr": Allein in den ersten drei Tagen stürmte eine halbe Million Menschen den Fragebogen und legte vorübergehend den Server lahm. Der Run hält an, die Uhr tickt, die Umfrage läuft noch bis 16. August.

Gesundheitliche Probleme

Im Zuge der Elektrifizierung ist die Tatsache, dass der Mensch trotz aller Digitalisierung immer noch von Lichtimpulsen gesteuert wird, in Vergessenheit geraten. Das ist ein Trugschluss. Nicht nur Pflanzen und Tiere, auch wir Menschen hängen von der Sonne ab. Jüngste Forschungen zeigen, wie stark der Stoffwechsel von der Tageszeit bestimmt wird. Die Genaktivität im Körper ist morgens anders als mittags oder abends.

Insofern ist eine Uhrenumstellung Gift für die Chronobiologie. "Sie trägt in einer übermüdeten Gesellschaft zusätzlich zur Erschöpftheit bei", sagt Biologe Peter Spork, Autor des Buches "Wake Up" (Hanser). Die Frage bei der Uhrenumstellung müsste lauten, ob die Menschen bereit sind, sieben Monate im Jahr täglich eine Stunde weniger zu schlafen", sagt er. In der Sommerzeit geht man später zu Bett, steht aber aufgrund der Sonne trotzdem zur gleichen Zeit auf, verliert also eine Stunde Schlaf. Als "sozialen Jetlag" bezeichnet das Chronobiologe Till Roenneberg von der Ludwig-Maximilians-Universität. Anders als bei Fernreisen macht die Zeitumstellung vor allem Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Stichwort: Einschlafprobleme. Die Folgen von Schlafmangel können Depressionen oder immunologische Beeinträchtigungen sein. Man wird krank.

Warum das nicht registriert wird? "Weil dann niemand einen Zusammenhang zur Zeitumstellung herstellt", meint Spork. Schlafdefizit sammelt sich über Wochen an. Was den Experten noch ärgert, ist die Bezeichnung Winterzeit. "Es ist nach dem Sonnenstand die Normalzeit", betont er, und es sei absurd, dass Menschen in Mitteleuropa nach einem Rhythmus leben, der biologisch für die Ukraine passend ist.

Kaum Energieersparnis

Doch die Sommerzeit hat ein anderes gewichtiges Argument auf ihrer Seite: Wir sparen dadurch Energie. Aber stimmt das wirklich? Geht es nach wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema, tendiert die Antwort Richtung Nein. "Im Durchschnitt ist die Energieersparnis äußerst gering" , sagt Tomás Havránek. Der Ökonom an der Karls-Universität Prag hat mit Kollegen im Vorjahr 44 Studien zur Auswirkung der Sommerzeit auf den Energieverbrauch analysiert.

Die darin errechneten Einsparungen sind nicht nur mager, einige Studien stellten sogar einen gegenteiligen Effekt fest, so Havránek: Unter anderem deshalb, weil die Leute nach der Zeitumstellung im Frühjahr plötzlich zur kältesten Zeit des Tages aufwachen – und einheizen. Die langen Tage im Sommer wiederum verleiten dazu, die Klimaanlagen eingeschaltet zu lassen. Der Verbrauch kann durch später eingeschaltetes Licht nicht ausgeglichen werden. Was wäre aus Energiesparperspektive das beste Szenario? "Die optimale Zeit wäre dauerhaft die, die zum Biorhythmus der meisten Europäer passt", sagt Havránek. Und das sei die Sommerzeit: "Die Durchschnittseuropäer gehen ja nicht um acht Uhr abends schlafen und stehen um vier Uhr früh wieder auf."

Geschmacksache

Dass das Thema die Menschen nicht kalt lässt, kann man allein schon am Ansturm ablesen, den die Onlinebefragung vom ersten Tag an erlebte. In welche Richtung das Pendel letztlich ausschlagen wird, kann man allerdings noch kaum abschätzen: Während in Österreich laut jüngsten Umfragen eine breite Mehrheit von 61 Prozent für die aktuelle Sommerzeitregelung ist, halten 75 Prozent unserer deutschen Nachbarn die zweimalige Umstellung im Jahr für unnötig.

So manche Eltern von Kindergarten- oder Schulkindern dürften sich aber auch hierzulande dieser Meinung anschließen – vor allem, wenn ihnen jene Momente einfallen, da die Kleinen nach dem letzten Sonntag im Oktober schon um fünf Uhr morgens das Frühstück verlangen und dafür ab Ende März nicht aus den Betten zu kriegen sind. Wenig Begeisterung gegenüber der Zeitumstellung werden auch viele Pendler und deren Versicherungen aufbringen: Traut man den entsprechenden Statistiken, dann kracht es in der Woche danach um bis zu 30 Prozent häufiger als im Jahresschnitt. Und wer öffentlich fährt, ist dank verpasster Züge und Busse auch nicht besser dran.

Wildtieren wäre die Sommerzeit im Grunde herzlich egal – hätten sie es nicht ab und zu ebenfalls mit dem Straßenverkehr zu tun, dem sie ab April im Morgengrauen häufiger zum Opfer fallen. Haustiere gelten dafür gemeinhin als Sommerzeitablehner, was kein Wunder ist, denn zweimal im Jahr müssen sie ihre fein eingestellten Biorhythmen nach geänderten Futter- und Gassigehzeiten neu kalibrieren. Bei Kühen wirkt sich das sogar nachteilig auf die Milchleistung aus. Es gibt also einiges abzuwägen bei der Frage nach Sommer- oder Normalzeit – in gut einem Monat werden wir wissen, wie Europa darüber denkt. (Thomas Bergmayr, Jürgen Doppler, Karin Pollack, David Rennert, 15.7.2018)