Wien – Man erwartet von einer Kinderbuchautorin vieles. Frohsinn, Heiterkeit und freundliche Worte zum Beispiel. Aber nicht, dass sie kundtut: "Kinderlieb bin ich nicht speziell. Mir sind manche Kinder wahnsinnig unsympathisch" (in "Willkommen Österreich"). Oder dass sie auf die Frage, welche Kinder sie nicht möge, konkretisiert: "Schiache Kinder und solche Streberkinder" (im "Profil"). Nüchtern durchkreuzte Christine Nöstlinger das zuckerlsüße Image ihres Berufsstandes.

Die Schriftstellerin Christine Nöstlinger ist 81-jährig gestorben.
Foto: Heribert Corn

Sie war gerade deshalb so gut für jenen geeignet. Nöstlinger verklärte die G'schroppen nämlich nicht. Aber "menschenlieb" sei sie, erklärte die Autorin dann auch immer wieder schnell. Und weil man weder als Ungustl geboren noch mit 18 Jahren plötzlich zu so einem werde, arbeitete sie dem menschlichen Verlottern also auch an der Basis zuwider – wiewohl eher zufällig.

Es war 1966, als Nöstlinger an ihrem Küchentisch das Kinderbuch eines Freundes illustrieren sollte. Eigentlich hatte sie Malerin werden wollen, dann an der Angewandten aber Gebrauchsgrafik studiert. Inzwischen hatte sie zudem geheiratet und zwei Töchter geboren. Zufrieden war sie mit dem Hausfrauendasein aber nicht.

Statt den fremden Text zu bebildern, begann sie zu den Zeichnungen eine eigene Geschichte zu erfinden. Heraus kam ein dickes, rothaariges Mädchen, das die anderen Kinder deshalb hänseln. Es leidet sehr darunter, bis es entdeckt, dass sein Schopf Zauberkräfte hat. Erschienen ist "Die feuerrote Friederike" 1970.

Immer misstrauisch und ehrlich

Von den widerstreitenden Lagern der pädagogisch Konservativen und Progressiven wusste Nöstlinger da noch nichts. Doch es war die Zeit, zu der Kinder im öffentlichen Bewusstsein wichtig wurden – denn für die 68er-Generation waren sie die Steine zum Bau einer neuen Gesellschaft. Und schnell wurde Nöstlinger zur Galionsfigur einer neuen Kinderliteratur: aufmüpfig statt betulich, wild statt brav. Ohne Zeigefinger, was sie aber nicht morallos machte.

Illustrieren ließen die Verlage ihre Geschichten später zwar von anderen, aber 150 weitere Bücher hat Nöstlinger seitdem geschrieben. Über Gretchen Sackmeier, Rosa Riedl, den Gurkenkönig oder den Franz, die Mini, den Dani Dachs – Außenseiter, die dadurch besonders werden. Nöstlingers Helden sind frech, aber sie haben immer einen "edlen Kern", wie Nöstlinger es nannte. Denn das wollten ihre jungen Leser.

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Auch für Erwachsene schrieb sie. Als "Iba de gaunz oamen Leit" erschienen etwa in den 1970ern Dialektgedichte. In einem dieser Texte beschreibt Nöstlinger schnörkellos wie immer die herrschende gesellschaftliche Enge: In einem Wiener Gemeindebau, in dem am selben Wochentag um halb eins zu Mittag alle Hausfrauen am gleichen Küchenblock den gleichen Spinat aus dem Packerl kochen. Die neue Konsumkultur, die Vorstellung vom kleinen Wohlstand, die noch starre Rolle der Frau als Hausfrau, soziale Normierung – alles das steckt in den wenigen Sätzen.

Denn Nöstlinger merkte, dass nicht nur in puncto Erziehung gesellschaftlich einiges schieflief. Auch dass Frauen nicht ohne die Erlaubnis ihres Mannes arbeiten gehen durften, stieß ihr auf. Emanzipiert sei sie aber nie gewesen, sagte sie einmal. Geheiratet habe sie selbst, weil das so gang und gäbe gewesen sei.

Bis 1998 erschienen in "Kurier", "Die ganze Woche" oder "Täglich Alles" ihre Kolumnen. Vielen waren sie zu links. Zeitweise arbeitete Nöstlinger an drei nebeneinander in ihrer Wohnung stehenden Schreibtischen für Rundfunk, Zeitungen und ihre Bücher. Wenn die Sätze nicht hinhauen wollten, rauchte sie. Viel. Das half.

Blick in fremde Fenster

Politisiert hat sie, 1936 im Wiener Arbeiterbezirk Hernals geboren, ihre Kindheit. Einerseits die Not der Kriegs- und Nachkriegszeit. Andererseits war ihre Familie politisch wach. Der Vater, ein Uhrmacher, und die Mutter, eine Erzieherin, hatten als Sozialisten unter den Nazis gelitten. Watschen hätten sie und ihre Schwester nie bekommen, so Christine Nöstlinger – als einzige in der Nachbarschaft. Trotzdem war das Verhältnis zur Mutter schwierig, zum Vater umso liebevoller. "Glück ist was für Augenblicke" heißt ihre Autobiografie.

Christine Nöstlinger bei einem Interview im Jahr 2016.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Den Spruch, dass man ihre Goschen einmal extra derschlagen wird müssen, hörte sie oft von der Großmutter. Als Kind spechtelte sie gerne in fremde Fenster und hörte den Leuten auf der Straße zu. Diese Nähe zum Alltag, zur echten Welt prägt ihre Geschichten. Ehrlich mussten sie sein und durften sich nicht anbiedern. Auch in der Sprache, die manchen Eltern hie und da zu deftig war.

Als die Debatte über politische Korrektheit hochkochte, sprach Nöstlinger sich gegen das Streichen des Wortes "Neger" und stattdessen für eine Erklärung aus, warum man es heute nicht mehr verwendet. Weil sie ihnen auf Augenhöhe begegnete, traute sie Kindern mehr Vernunft zu als andere Erwachsene. Für blöd dürfe man die jungen Menschen weder halten noch verkaufen. Dass man in Texte für Erwachsene nie so "reinpfuschen" würde wie in Kinderliteratur, sah Nöstlinger als Bestätigung dafür, dass Jugendbücher für die meisten nicht mehr seien als "Pädagogikpillen, gewickelt in buntes Geschichterlpapier".

Sie pflegte die "Zivilisationshaut"

Von einer "Zivilisationshaut" des Menschen sprach die Autorin 2015 in ihrer Rede im Parlament zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen: "Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem wie sie gepflegt und gehegt wird. Versorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell auf, und was aus den Rissen wuchert, könnte zu Folgen führen, von denen es dann betreten wieder einmal heißt: Das hat doch niemand gewollt!"

Christine Nöstlinger hat diese "Zivilisationshaut" ausgiebig gepflegt. 2003 erhielt sie dafür den allerersten Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis, eine Art Nobelpreis ihres Metiers. In zig Sprachen wurden ihre Bücher übersetzt, viele verfilmt. Zuletzt die Kindheitserinnerungen "Maikäfer flieg".

Christine Nöstlinger im Jahr 2007 STANDARD-Chat.
Foto: rasch

Vor wenigen Wochen erklärte sie in News, nicht mehr zu schreiben. Neben dem Alter begründete sie das damit, dass sie die Lebenswelt der heutigen Kinder wegen Internet und Smartphones nicht mehr verstehe.

Am 28. Juni ist Christine Nöstlinger, wie jetzt bekannt wurde, nach kurzer schwerer Krankheit im Wilhelminenspital 81-jährig gestorben. Heute, Freitag, wurde sie am Hernalser Friedhof beigesetzt. (Michael Wurmitzer, 13.7.2018)