Wien – Wer die Musik von Johann Sebastian Bach liebt, hatte bei Anne Teresa De Keersmaekers Mitten wir im Leben sind / Bach6Cellosuiten am Wochenende zwei wunderbare Stunden. Wer nicht, konnte bei diesem ersten Höhepunkt des Impulstanz-Festivals im Burgtheater über den zur Musik gezauberten Tanz staunen.

Es brauchte nur drei Tänzer und zwei Tänzerinnen aus De Keersmaekers Compagnie Rosas und den französischen Cellisten Jean-Guihen Queyras, um ein Stück zu bauen, unter dessen feiner Hülle eine Hölle lodert.

"Mitten wir im Leben sind ...", beginnt Martin Luthers Lied von 1524. Und so setzt es fort: "... mit dem Tod umfangen." Die zweite Strophe wird deutlicher: "Mitten in dem Tod / anficht uns der Hölle Rachen." Und in der dritten Strophe heißt es: "Wo solln wir denn fliehen hin / da wir mögen bleiben?"

Rosas-Tänzer Michaël Pomero und Star-Cellist Jean-Guihen Queyras im ersten Teil von "Mitten wir im Leben sind / Bach6Cellosuiten".
Foto: Anne Van Aerschot

Dieses Lied ist die Übertragung eines rund 800 Jahre davor entstandenen lateinischen Chorals ins Deutsche und erinnert im Sinn eines Vanitas-Motivs an die Vergänglichkeit alles Irdischen. In Bachs Werkverzeichnis findet sich Mitten wir im Leben sind als Kantate mit der Signatur BWV 383. Über diese Verbindung ist der Weg zu den Suiten für Violoncello solo (BWV 1007-1012) nicht weit, denn in deren sechs Stücken spielte der Komponist mit Tänzen aus seiner Zeit: etwa der Courante oder der Sarabande.

De Keersmaeker hat den ersten vier Suiten ebenso viele Tanzsoli zugeordnet, in der fünften Suite fehlt das Solo, und in der letzten treten alle Beteiligten gemeinsam auf. Einschließlich einer zusätzlichen Tänzerin, die davor immer wieder als Begleiterin auftaucht.

Üblicherweise tanzt die Choreografin den Part selbst, aber weil sie gerade an einer Verletzung laboriert, war De Keersmaeker durch ihre künstlerische Assistentin Femke Gyselinck vertreten.

Die Tödin ist da, wenn alle anderen fehlen

Diese Figur kann als die Personifikation der zweiten Verszeile von Mitten wir im Leben sind gesehen werden: als ein die Solisten – drei Männer und eine Frau – umfangender Tod. Und der ist hier weiblich. Die Tödin zeigt mit Gesten den Beginn jeder neuen Suite an. Zugleich zählt sie dem Ende entgegen. Sie hilft den Tänzern beim Anbringen von Linienstrukturen aus färbigen Klebebändern auf den Bühnenboden, sie ist da, wenn alle anderen fehlen, und sie begleitet deren "Wiederauferstehung" in der finalen Suite.

Auch der Cellist zieht sich einmal zurück. In der kurzen Zeit dieser Absenz ist sein Instrument nur von ganz weit weg zu hören. Jean-Guihen Queyras spielt Bach als die Zeit, den Raum und, wenn man so will, die Dynamik eines Lebensprinzips, auf das wir keinen Einfluss haben.

So stellt De Keersmaeker dem Rachen einer Gegenwart, vor der es – "Wo solln wir denn fliehen hin?" – kein Entrinnen zu geben scheint, ein Wunderwerk der Hoffnung entgegen.
(Helmut Ploebst, 15.7.2018)