Seit ein paar Tagen ist die sogenannte "Gold Plating"-Liste, die Übererfüllung von EU-Mindeststandards, der Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung öffentlich zugänglich. Die schwarz-blaue Bundesregierung hatte dazu aufgerufen, die Übererfüllung europäischer Rechtsnormen zu melden, um österreichisches Recht anzupassen. Auch die Gruppe der Menschen mit Behinderungen ist vom sich abzeichnenden Rückbau des Sozialstaates betroffen, was nicht weiter verwundert. Nach wie vor herrscht in Österreich ein negatives Bild von Behinderung vor – eines, das Menschen mit Behinderungen als Bittsteller und Spendenempfänger versteht, und in dem Gleichstellung, Nicht-Diskriminierung und der Abbau von Barrieren immer noch Nebenschauplätze sind.

Schutz vor Diskriminierungen in Frage gestellt

Dies macht Zeile 36 der "Gold Plating"-Liste schmerzlich deutlich: Da steht etwa in der Spalte Auswirkungen auf Unternehmer: "bürokratischer und finanzieller Aufwand höheres Schutzniveau bei Kündigungsschutz in Ö". Menschen mit Behinderungen sind also finanziell und bürokratisch ein Aufwand, ein Mehraufwand, wie die Spaltenüberschrift deutlich macht. Und als Grund der Überfüllung ist zu lesen: "Inklusionspaket, insbesondere Verbandsklage und Verankerung eines Unterlassungsanspruches bei Diskriminierungen in Zusammenhang mit einer Belästigung". Es geht einerseits um den Anspruch auf die Unterlassung einer Diskriminierung, andererseits die erweiterten Möglichkeiten einer Verbandsklage. Dazu sollte erläutert werden, dass das österreichische Behindertengleichstellungsrecht bislang weder das Recht auf Unterlassung einer Diskriminierung noch das Recht auf Beseitigung eines diskriminierenden Verhaltens oder einer diskriminierenden Barriere enthielt.

Behinderte Menschen werden in Österreich noch immer negativ konnotiert.
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Rechtlich vorgesehen war bislang nur eine geringe Schadensersatzzahlung. Was die "Gold Plating"-Liste nun als Übererfüllung bezeichnet, ist folgende Änderung: Seit 1. Jänner ist die Unterlassung einer Belästigung aufgrund einer Behinderung rechtlich verankert. Darüber hinaus wurde das sogenannte Verbandsklagerecht erweitert, das heißt werden die allgemeinen Interessen der Personengruppe behinderter Menschen im Sinne der Gleichstellung verletzt, dann können seit 1. Jänner 2018 nicht nur der Österreichische Behindertenrat, sondern darüber hinaus auch der Bundesbehindertenanwalt und der Klagsverband zur Durchsetzung der Rechte von Diskriminierungsopfern sogenannte Verbandsklagen einbringen. Im Rahmen solcher Verbandsklagen können dann große Kapitalgesellschaften auch auf Unterlassung und Beseitigung von Diskriminierungen behinderter Menschen geklagt werden.

Zur Info: Obwohl im Behindertengleichstellungsrecht Verbandsklagen seit dem Jahr 2006 rechtlich verankert sind, hat es bislang keine Verbandsklage gegeben. Überhaupt sind Gerichtsverfahren zu Diskriminierungen aufgrund von Behinderungen spärlich, nicht zuletzt aufgrund ausufernder Ausnahmeregelungen, die von Seiten der Wirtschaft durchgesetzt wurden. Wo bitte sehen Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung eine Übererfüllung? Wo sehen sie außerordentliche Belastungen für Unternehmen beziehungsweise für Kapitalgesellschaften? Dass das im österreichischen Parlament einstimmig beschlossene Inklusionspaket ohnehin nur eine partielle Anpassung an die in Österreich seit 2008 rechtlich gültige UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen darstellt, sei hier nur am Rande erwähnt.

Rückbau von Rechten als Ziel

Österreichische Behindertenpolitik wird als Belastung in erster Linie für Unternehmer – verstanden. Menschen mit Behinderungen zustehender rechtlicher Schutz und die derzeit sowieso nur äußerst beschränkte Möglichkeit, gegen Diskriminierung vorzugehen, wird dabei als Über-Erfüllung von EU-Recht dargestellt. Die bisherige mangelhafte Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wird ausgeblendet, obwohl die Bundesregierung im Rahmen der ersten Staatenprüfung bereits im Jahr 2013 den eindeutigen Auftrag erhielt, rechtliche Mittel zu schaffen, "die eine Verhaltensänderung jener Menschen erfordern, die Personen mit Behinderungen diskriminieren".

In der "Gold Plating"-Liste von Übererfüllung zu reden, zeugt von einem überkommenen, auf Wohltätigkeit und nicht auf Rechte bezogenes Verständnis von Behinderung, von Zynismus, von Unkenntnis österreichischer Behindertenpolitik und von Unkenntnis des Umsetzungstandes der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Als Treppenwitz dieser "Gold Plating"-Liste erscheint, dass die Auflistung im Sinne von Wirtschaftsinteressen auch das enorme ökonomische Potential der angesprochenen 15 Prozent der österreichischen Bevölkerung außer Acht lässt.  Der Überschneidungsbereich der Wahrung von formulierten Menschenrechten und der Förderung von Wirtschaftsinteressen und -leistungen als Produzenten, als Konsumenten oder Teil der Sozialwirtschaft – wird einer Vorstellung geopfert, dass Menschen mit Behinderungen eine Belastung sind, ein mehr als bedenklicher Rückschritt als Perspektive für das österreichische Sozial- und Rechtssystem. Ein Rückbau von Rechten schadet in jedem Fall am Ende nicht nur den betroffenen Menschen, sondern uns allen als Gesellschaft unmittelbar.

Endlich Rechtsvorschriften umsetzen

Statt also von Übererfüllung im Kontext österreichischer Behindertenpolitik zu sprechen, sollte viel mehr versucht werden, endlich jene Rechtsvorschriften, die es auf österreichischer, europäischer und internationaler Ebene gibt und die für Österreich rechtlich verbindlich sind, zu erfüllen und umzusetzen. (Petra Flieger, Ursula Naue, Volker Schönwiese, 18.7.2018)

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Ursula Naue ist Senior Lecturer am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, mit Schwerpunkt auf Behindertenpolitik und Politik des Alter(n)s. Derzeit stellvertretendes Mitglied in der Wiener Monitoringstelle für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.