Einem Algorithmus wurde beigebracht, aus Fotos von Menschen Homosexualität herauszulesen.

Foto: https://www.istockphoto.com/at/portfolio/ryanjlane

Anfang Juli erschien im STANDARD ein Artikel über eine umstrittene Studie zweier Wissenschafter der Stanford University, Michael Kosinski und Yilun Wang, in der mittels eines Computer-Algorithmus ein Zusammenhang zwischen menschlichen Gesichtszügen und sexueller Orientierung hergestellt wurde. Der Artikel befasst sich intensiv mit den Sicherheitsbedenken, die aus Sicht der LGBT-Community mit der Verwendung einer solchen Gesichtserkennungs-Software einhergehen. Ein zweiter Teil der Studie, der ebenso problematisch ist, wird allerdings nicht erwähnt.

In diesem interpretieren die Autoren den Zusammenhang zwischen Gesichtszügen und sexueller Orientierung als Beleg für einen biologischen Ursprung von Homosexualität. Diese Interpretation ist deswegen ein Trugschluss, weil es viele plausible Erklärungen für einen Zusammenhang zwischen physischen Merkmalen und sexueller Orientierung gibt, die die Autoren übersehen.

Es ist eine typische Gefahr jeder Forschung, die auf Korrelationen basiert, dass dabei alternative Erklärungen für die eigenen Ergebnisse übersehen werden. Diese Studie allerdings betrifft eine Minderheit, die besonders von Diskriminierung betroffen ist. Dass die Ergebnisse der Studie außerhalb der akademischen Welt teils unkritisch wiedergegeben werden, ist daher außergewöhnlich problematisch.

Viel Lärm um das halbe Etwas

Auch andere Zeitungsartikel und kritische Stellungnahmen von LGBT-Organisationen im Anschluss an die Publikation des Papers erwähnten nicht, dass eine der wichtigsten Schlussfolgerungen der Studie ungerechtfertigt ist. Viele der Kritiker konzentrierten sich – wie auch der Artikel im STANDARD – auf die Auswirkungen für die Sicherheit der LGBT-Community oder kritisierten die Methodologie der Autoren. Die Diskussion war maßgeblich von Missverständnissen und falschen Anschuldigungen geprägt.

Dem liegt ein Verschulden beider Seiten zugrunde: Einerseits veröffentlichten manche LGBT-Organisationen schlecht recherchierte Stellungnahmen – wie zum Beispiel ein Artikel, in dem behauptet wurde, die Studie sei keinem Begutachtungsverfahren unterzogen worden. Andererseits gelang es den Autoren der Studie nicht, ihre Ergebnisse der LGBT-Community angemessen zu kommunizieren. So bewies etwa Kosinski wenig Fingerspitzengefühl, als er im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung mit der Stanford Queer Student Organization Begriffe wie "geschlechts-atypische Gesichtszüge und sexuelle Vorlieben" verwendete, ohne im Vorhinein klarzustellen, dass er diese rein statistisch und nicht wertend verstand.

Unumstrittene Resultate

Im ersten Teil des Forschungspapers beschreiben Kosinski und Wang, wie sie einen Algorithmus "trainierten", Fotos menschlicher Gesichter in zwei Gruppen einzuteilen: hetero- und homosexuell. Das Hauptresultat: Der Computer erkennt die sexuelle Orientierung anhand von Porträts deutlich akkurater als menschliche Probanden.

Natürlich kann dieses Resultat nicht verallgemeinert werden, unter anderem auch deshalb nicht, weil die verwendeten Fotos von Dating-Websites stammen und somit vermutlich bewusst die jeweilige sexuelle Orientierung betonen. Die Autoren mutmaßen auch offen, dass der Algorithmus Alltagsbilder weniger erfolgreich einteilen könne.

Umstrittene Schlussfolgerungen

Im zweiten Teil der Studie versuchen die Autoren festzustellen, warum der Algorithmus manche Fotos als homosexuell einstuft. Dabei unterscheiden sie zwischen permanenten und veränderlichen Merkmalen, also zum Beispiel der Breite des Kinns im Vergleich zu einer Bartfrisur. Kosinski und Wang zeigen auf, dass auch dauerhafte Merkmale für die Klassifizierung durch den Algorithmus wichtig seien, und interpretieren das als Indiz für die Berechtigung bestehender Theorien, die den Ursprung sexueller Orientierung als hormonell verursacht betrachten. Allerdings gibt es andere plausible Erklärungen für den Zusammenhang zwischen Gesichtszügen und sexueller Orientierung, die eine weniger radikale Interpretation nahelegen.

Nehmen wir beispielsweise an, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Kinnbreite eines Menschen und dem Grad seiner Extrovertiertheit. Zweitens nehmen wir an, es gebe keinerlei Korrelation zwischen sexueller Orientierung und Extrovertiertheit: Homosexuelle Menschen sind im Schnitt genauso extrovertiert wie heterosexuelle. Aber als dritten Punkt nehmen wir an, dass extrovertierte Menschen sich eher outen, zum Beispiel, weil es einiges an Mut erfordert, und dass sie auch viel eher auf Dating-Plattformen zu finden sind. Das hätte zur Folge, dass der durchschnittliche homosexuelle Mensch auf einer Dating-Site extrovertierter ist als der Bevölkerungsschnitt.

Zuletzt nehmen wir noch an, dass solch eine Selektion für heterosexuelle Menschen nicht stattfindet – immerhin mussten diese sich ja nicht outen – und daher Heterosexuelle auf Dating-Apps genauso extrovertiert sind wie der Bevölkerungsschnitt. Wenn man nun nur Probanden von einer Website analysiert – wie Kosinski und Wang es tun –, müsste man daraus schließen, dass Lesben und Schwule extrovertierter sind als Heterosexuelle.

Natürlich können Kosinski und Wang Extrovertiertheit nicht messen, die Breite des Kinns allerdings schon. Und da diese beiden Attribute korrelieren, würde eine statistische Analyse unter den obigen Annahmen ergeben, dass Kinnbreite und sexuelle Orientierung zusammenhängen. Welche Interpretation dieser Korrelation ist nun korrekt? Die soeben beschriebene oder die der Autoren, nämlich dass tatsächlich eine Verbindung zwischen physischen Attributen und sexueller Orientierung besteht? Der Punkt ist: Wir wissen es nicht. Basierend auf den Daten, die die Autoren gesammelt haben, ist es unmöglich, dem Ursprung der Korrelation auf den Grund zu gehen.

Unsensible Forschung

Gerade weil dies ein hochsensibles Thema ist, haben die Autoren die Verantwortung, sowohl als Wissenschafter als auch als Mitglieder der Zivilgesellschaft zu betonen, dass der Zusammenhang zwischen physischen Merkmalen und sexueller Orientierung hochspekulativ ist. Forschung zum Thema der sexuellen Orientierung muss sehr sorgfältig durchgeführt werden und von spekulativen Verallgemeinerungen Abstand nehmen. Das ist insbesondere unerlässlich im Hinblick auf eine lange und tragische Geschichte von Vorurteilen, die als Wissenschaft verkleidet wurden — sowohl in der Form von Physiognomik als auch generell, was die Erforschung von Sexualität außerhalb der heterosexuellen Norm betrifft.

Ich erwarte von Wissenschaftern –insbesondere Sozialwissenschaftlern – dass sie sich des historischen und sozialen Kontexts ihrer Forschung bewusst sind. Vor allem wenn sie beschließen, über eine Minderheit zu schreiben, die sowohl historisch als auch gegenwärtig Diskriminierung ausgesetzt ist. (Alessandra Peter, X.7.2018)