Auf den lange erwarteten Höhepunkt der Feierlawine zu Nelson Mandelas 100. Geburtstag mussten die Südafrikaner dann doch noch etwas länger warten. Mit einer Stunde Verspätung begann der ehemalige US-Präsident Barack Obama seine Rede zu Ehren der südafrikanischen Nationallegende am Dienstag im Johannesburger Cricket-Stadion. Vor vollen Rängen betonte er die Werte der Demokratie, die die einzige Garantie für eine bessere Zukunft sei. Rassismus sei auch Jahrzehnte nach dem Kampf der Anti-Apartheits-Ikone Mandela weltweit ein Problem. Umso mehr glaube er an Mandelas Vision von Gleichheit.

In Südafrika selbst ist man sich da gar nicht mehr so sicher. Denn von der einstigen Euphorie um den Wundertäter am Kap, den "Madiba Magic" (nach Mandelas traditionellem Clannamen), ist heute nur noch wenig zu spüren. Wo man auch hinschaut, scheint sich seit der politischen Wende vor 24 Jahren kaum etwas Entscheidendes verändert zu haben: Noch immer geben weiße Firmenchefs, weiße Farmer und weiße Experten den Ton an, während die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung in tiefster Armut festsitzt. Für einen Großteil der Südafrikaner hat sich die Befreiung nicht ausgezahlt.

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Gewiss wird Nelson Mandela nach wie vor als Gründervater der neuen demokratischen Nation verehrt: Schließlich war es vor allem ihm zu verdanken, dass das Land damals nicht vollends im Bürgerkrieg versank. Mit seiner Versöhnungspolitik schuf der großherzige Befreiungsführer das Fundament der "Regenbogennation", deren Bewohner sich in der ganzen Welt als etwas Besonderes vorkommen durften. Von der Regenbogennation wird aber am Kap höchstens noch abfällig gesprochen: Vor allem zornige schwarze Jugendliche halten das Versöhnungsgeschwafel für bloße Augenauswischerei. Der Skandal der andauernden sozialen Ungleichheit wird immer häufiger auch dem ersten schwarzen Präsidenten des Landes zur Last gelegt: Mandela habe seine dunkelhäutigen Landsleute erst befreit und dann verraten, heißt es.

Neue Führungspersonen

Wortführer der jungen Wütenden ist Julius Malema, ehemaliger Chef der ANC-Jugendliga, der nach seinem Rausschmiss aus der Regierungspartei eine eigene Partei, die Economic Freedom Fighters (EFF), gründete. Er wirft Mandela vor, nach seiner Machtübernahme vor der zweiten Phase der Revolution zurückgeschreckt zu sein und das Land mitsamt seinen Rohstoffen und der industriellen Power in den Händen der weißen Kolonialisten gelassen zu haben.

Das Versäumnis des "alten Mannes" meinen die EFF-Kämpfer mit den roten Baretts nun nachholen zu müssen: mit einer radikalen Landreform, der Verstaatlichung von Banken und Minen sowie der "Entkolonialisierung" der noch immer von weißen Wissenschaftern beherrschten Universitäten. "Wir feiern den Nelson vor seiner Haft und im Gefängnis", sagt Malema, "nicht den Kompromissler."

Dass die Ökonomischen Freiheitskämpfer mit ihrer Kritik nicht alleine stehen, wurde spätestens im April dieses Jahres beim Tod von Mandelas zweiter Ehefrau Winnie deutlich. Sie eignete sich bestens als Gesicht eines sich erneuernden und radikalisierenden Afrikanischen Nationalkongresses, der sich gerade mit Müh und Not des erzkorrupten Jacob Zuma entledigt hatte: Dagegen galt die verstorbene "Mutter der Nation" als furchtlose Anwältin der Interessen der Ärmsten. Mit Winnie als Galionsfigur konnte auch dem drohenden Exodus der ANC-Jugendlichen zu den roten Baretts begegnet werden: 2019 stehen Wahlen an, die für das Schicksal der Partei Mandelas entscheidend sein werden.

Die Spannungen zwischen Winnie und ihrem einstigen Gemahl kamen einst viel zu krass zum Vorschein, um nun unter den Teppich gekehrt werden zu können: Schließlich hatte sich Mandela von der an Eskapaden reichen Winnie scheiden lassen und sie später aus dem Kabinett geworfen. In einem aufsehenerregenden Interview konfrontierte Winnie ihren Ex-Mann schon Jahre vor dessen Tod im Dezember 2013 mit den heutigen Vorwürfen Malemas: Er habe die schwarzen Südafrikaner "fallen lassen", als er bei den Verhandlungen um die Zukunft des Landes einem "schlechten", die Weißen zumindest wirtschaftlich am Drücker lassenden Deal zustimmte.

Im Rahmen von Winnies Glorifizierung kamen noch andere Defizite Nelsons zum Vorschein: seine oft schroffen patriarchalischen Züge, seine an Starrsinn grenzende Sturheit, seine explosiven Zornesausbrüche.

Ernüchternde Blickwinkel

Vielleicht wäre der Jubilar über die derzeitige Entmythologisierungswelle sogar froh gewesen, denn seine Vergötterung war ihm selbst unangenehm. "Ich bin kein Heiliger", sagte er einst, "höchstens, wenn man darunter einen Sünder versteht, der nicht aufgibt, sich verbessern zu wollen."

Nach einer Flut fast religiöser Traktate über den langen Leidensweg Madibas und seinen finalen Triumph kommen inzwischen auch nüchterne analytische Einordnungen seines Lebenswegs auf den Markt, wie die Biografie des Regensburger Politologen Stephan Bierling, der mit einigen hartnäckigen Missverständnissen aufräumt: dass es sich bei Mandela um einen hehren Pazifisten, einen überzeugten Antikommunisten oder einen stets aufrechten Menschenrechtskämpfer gehandelt habe. In Wahrheit nahm er einst den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi in Schutz, weil dieser den ANC mit Geld versorgt hatte. Er schloss sich zeitweise der Moskau hörigen Kommunistischen Partei an, weil diese seinen bewaffneten Kampf unterstützte, und griff – anders als Mahatma Gandhi – zur Gewalt als Mittel der Befreiung.

Die jungen Wütenden berufen sich ausgerechnet auf diesen gewaltbereiten Mandela – vom versöhnenden Madiba, der in seinen 27 Haftjahren die weißen Gefängniswärter zu verstehen und auf seine Seite zu bringen suchte, wollen sie nichts wissen. Ihrer Auffassung nach sollte Südafrika heute mit staatlicher Gewalt – mit Enteignungen – in ein gerechteres Gemeinwesen verwandelt werden. Dass es sich dabei um einen Irrtum handelt, könnten sie am Beispiel Simbabwes oder zwei Dutzend weiterer afrikanischer Staaten ablesen.

Eine Mehrheit der weißen Südafrikaner drückte einst erleichtert die Hand des Versöhners Mandela, um sich dann in Sicherheit zu wiegen: Die Firmenchefs werkelten in ihren Konzernsitzen weiter wie immer, Farmer hielten an ihren Gütern fest. Man dachte wohl, dass sich die riesige soziale Kluft mit der Zeit von ganz allein schließen werde. Ein Vierteljahrhundert nach dem Wunder am Kap ist allerdings klar: Daraus wird nichts.

Was Südafrika braucht, ist eine Vision von einem gerechten Gemeinwesen. Mandela stand für diese Idee: Ein besseres Vorbild haben die Südafrikaner nicht, und sie werden es auch nie bekommen. (Johannes Dieterich, 17.7.2018)