Ein kleines blondes Mädchen blickt im Nachthemd auf einen feuerrot erleuchteten Horizont, von fern ist ein Grollen zu hören. "Was ist das Licht da, Mama?" – "Das ist Berlin, mein Schatz, es brennt." Vierzig Jahre später ist die Sängerin Nico mit diesem Erinnerungsbild aus dem Krieg noch immer in Angstlust verbunden, es ist ein ständiger Begleiter. Jede visuelle und akustische Spur, die zu diesem "Ursprung" führt, wird aufgenommen: etwa wenn Nico das zerbombte Berlin in der Stadt Manchester wiederzuerkennen glaubt oder im bollernden Geräusch eines Wasserboilers. Vor allem aber findet ihr "Rosebud"-Moment Eingang in die Musik. Im madrigalhaften "Nibelungenlied" singt sie: "Shrieking city sun shiver in my veins / In flames I run".

Trine Dyrholm in "Nico, 1988" als Antithese zur blonden Göttin.
Foto: Filmladen Filmverleih

Die italienische Filmemacherin Susanna Nicchiarelli erzählt in "Nico, 1988" die zwei letzten Jahre im Leben der als Christa Päffgen geborenen deutschen Musikerin. 1986 lebt Nico (Trine Dyrholm) als Antithese zur blonden Göttin (schwarze Haare, schwarze Kleidung, schwarze Augenringe) in Manchester und tourt mit einer zusammengewürfelten Band von Junkies durch Europa.

Die Bühnen sind klein, doch ihr Status als Legende zählt immer noch was. In einer Radiosendung muss sich Nico, die seit zwanzig Jahren eigene Musik macht, tatsächlich immer noch als "Lou Reed's Femme Fatale" ansprechen lassen. Ob sie denn nicht ein bisschen über ihre Erfahrungen mit The Velvet Underground erzählen möchte? – "No, I don't."

Verse von Wordsworth

Einmal bittet Nico ihren Manager Richard, ihr eine Passage aus einem Gedichtband von Wordsworth vorzulesen. Es geht ums Älterwerden: "We will grieve not, rather find / Strength in what remains behind". Das "remains behind" macht ihr zu schaffen – "What's left should be in front of us an not behind of us". Richard argumentiert logisch, zeitlinear, Nico bohrt nach: "Who left it?"

Immer wieder kreist "Nico, 1988" um Fragen der Erinnerung und Geschichte. Nicos vermeintlich "heroische" Zeit – also der Stoff, aus dem noch fast jedes Biopic gemacht ist, da sich darüber die alte Geschichte über Aufstieg und Fall am einfachsten ausformulieren lässt – lässt Nicchiarelli allein als kurze mythengeschichtliche Flashbacks in die filmische Gegenwart spuken.

Trailer zu "Nico, 1988".
Celluloid Dreams

Es sind die 1960er-Jahre: Nico taucht in Andy Warhols Factory auf wie eine "Göttin aus Valhalla" (Billy Name), sie singt mit The Velvet Underground, schlägt das Tamburin und schneidet sich in Warhols "The Chelsea Girls" ihr tolles blondes Haar zurecht. Die vibrierenden Handkamera-Aufnahmen sind weitgehend historisch, sie stammen aus Jonas Mekas' Filmen "Walden" und "Scenes from the Life of Andy Warhol". Auf einigen Bildern ist auch ihr kleiner Sohn Ari zu sehen. Als heroinabhängiger "troubled young man" ist er die eigentlich tragische Figur des Films. Nico, die inzwischen auf Methadon ist, versucht die abgebrochene Beziehung zu ihm wiederaufzubauen.

Ausgehungerter Zombie

Im kommunistischen Prag verwebt sich schließlich die Zeitkapsel des "burning Berlin" mit den ausgehenden 1980er-Jahren. Kurz vor dem Zusammenbruch des Ostblocks liegt Endzeitstimmung in der Luft. Nico dreht fast durch, das Heroin musste sie hinter der Grenze zurücklassen. Wie ein ausgehungerter Zombie singt sie "My Heart is Empty", während die Menge tobt, rückt die Polizei an, die Assistentin holt schon mal den Fluchtwagen.

Ausnahmsweise setzt Nicchiarelli die eher trockene Dramaturgie aus und dynamisiert die parallelen Handlungen zu einem betörenden Stück "Actionkino". Musikerin und Band türmen wie angeschossene Bankräuber, als sie mit dem Auto davonfahren, setzt Alphavilles "Big in Japan" ein. Am Straßenrand Menschen mit Fackeln und Kerzen, es ist der Tag der Toten, auch das noch. (Esther Buss, 20.7.2018)