Bild nicht mehr verfügbar.

Die riesige Kolumbus-Statue in Barcelona Anfang Juni: Der italienische Seefahrer zeigt "offene Arme" für Flüchtlinge.

Foto: AP / Emilio Morenati

Die europäische Politik wird weiterhin von Spannungen in Zuwanderungsfragen beherrscht. In Italien vereinnahmt Innenminister Matteo Salvini, ein populistischer Scharfmacher, die öffentliche Aufmerksamkeit mit beinahe täglichen Rundumschlägen gegen Einwanderer. Auch Salvinis deutscher Amtskollege Horst Seehofer stürzte die Regierungskoalition in eine Krise, um neue Maßnahmen gegen Asylsuchende sicherzustellen, die über Österreich nach Deutschland kommen wollen. Da ihre Länder in ihrem Kampf gegen die illegale Einwanderung auf sich gestellt blieben, so behaupten Salvini und Seehofer, müssten sie sich auf nationale und nicht auf europäische Lösungen konzentrieren. Damit liegen sie falsch.

In Wahrheit spielte die Europäische Union eine entscheidende Rolle bei der Eindämmung irregulärer Ankünfte, die seit dem massiven Zustrom syrischer Flüchtlinge über Griechenland und Ungarn im Jahr 2015 erheblich zurückgegangen sind. Dank der im März 2016 getroffenen Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei gelangen nur noch wenige Flüchtlinge nach Griechenland. Ebenso sank die Zahl der Ankünfte in Italien auf einen Bruchteil der Gesamtzahl des Vorjahrs. Verglichen mit den geschätzten Ankünften von über einer Million wurden die illegalen Einreisen in die EU auf etwa 100.000 pro Jahr gesenkt.

Angesichts der über 500 Millionen Einwohner der EU ist diese Zahl zu bewältigen. Dennoch schlachten Politiker die Migrationsfrage weiterhin aus, wobei manche dramatischen Ankünfte – insbesondere die große Zahl an Migranten, die vor der Küste Libyens gerettet wurden – das Thema in den Schlagzeilen halten.

Bedrohtes Schengen

Das eigentlich zu lösende Problem besteht aber darin, welches Land für diejenigen verantwortlich sein soll, die sich bereits auf EU-Territorium befinden. Die Tatsache, dass die EU diese Frage nicht in einer für alle Seiten zufriedenstellenden Weise beantwortet hat, bedroht nun den Weiterbestand des Schengen-Raums als Gebiet ohne Grenzkontrollen.

Auf dem Papier verfügt die EU über klare Regeln in dieser Angelegenheit: Gemäß dem sogenannten Dubliner Übereinkommen ist das erste EU-Land, in dem Asylsuchende aufgenommen werden, für die Prüfung ihrer Anträge zuständig. Aber Länder mit Außengrenzen wie Griechenland und Italien beklagen natürlich, dass dies eine unzumutbare Belastung für sie darstellt.

Allerdings wehren sich auch Asylsuchende gegen diese Regel. Angesichts ungünstiger Arbeitsmarktbedingungen in den südlichen Ländern mit EU-Außengrenzen begeben sie sich schnurstracks in nördlichere Teile Europas, um dort um Asyl anzusuchen. Aus diesem Grund erhält Deutschland, das über keine EU-Außengrenze verfügt, mehr Asylanträge als Italien. In der EU-Asyldatenbank Eurodac sind bereits viele derartige Fälle verzeichnet.

Entsprechend dem Dubliner Übereinkommen hat Deutschland das Recht, andere Mitgliedsstaaten um die "Übernahme" (so der juristische Begriff) dieser Fälle zu ersuchen. Es bestehen allerdings zahlreiche Ausnahmen von dieser Regel zum Ersteinreiseland. Wenn beispielsweise ein Asylsuchender bereits Familienmitglieder in einem anderen Land hat (in diesem Fall in Deutschland), könnte dieses Land für die Bearbeitung des Antrages verantwortlich sein. Oder wenn es einem Asylsuchenden gelingt, das Ankunftsland für drei Monate zu verlassen, kann der Erstantrag zurückgezogen und in einem anderen EU-Mitgliedsland ein neuer Antrag gestellt werden.

Diese Ausnahmen bieten Asylsuchenden reichlich Gelegenheit, Dublin-Überstellungen vor Gericht anzufechten. Außerdem besteht für nationale Behörden ein starker Anreiz, eingehenden Übernahmeanträgen aus formalen oder inhaltlichen Gründen nicht zu entsprechen, während sie versuchen, so viele Personen wie möglich wieder ins Ausland zu schicken. 2017 wurden etwa 160.000 "Übernahmeanträge" eingereicht, aber nur etwa 20.000 wurden tatsächlich umgesetzt. Diese Faktoren sowie die Diskrepanzen zwischen den Rechtssystemen und Verwaltungsverfahren in den EU-Mitgliedstaaten haben das Dubliner Übereinkommen weitgehend außer Kraft gesetzt.

Viele Übernahmeersuchen

Diese Realität lag den jüngsten Spannungen innerhalb der deutschen Koalitionsregierung zugrunde. Von den über 60.000 Übernahmeersuchen, die deutsche Behörden gemäß dem Dubliner Übereinkommen stellten, wurden weniger als 15 Prozent wirklich umgesetzt, wodurch lediglich 7100 Überstellungen in andere Mitgliedsstaaten tatsächlich stattfanden.

Im Jahr 2016 allerdings setzte Deutschland annähernd 30 Prozent der 27.000 eingegangenen Ersuchen um, das heißt, es wurden etwa 8700 Personen übernommen. Deutschland ist somit trotz fehlender Außengrenze zu einem Nettoempfänger von Dublin-Übernahmen geworden.

Vor diesem Hintergrund möchte Seehofer Asylsuchende, die laut Eurodac bereits anderswo registriert sind, an der Einreise nach Deutschland hindern. Allerdings ist er in seiner Frustration bei weitem nicht allein: Diese Kluft zwischen Rechtsgrundsätzen und der Realität bewirkt, dass kein Mitgliedsstaat mit dem gegenwärtigen System zufrieden ist. Während die Länder mit Außengrenzen weiterhin darauf beharren, dass sie durch das Dubliner Übereinkommen ungerecht behandelt werden, beklagen die nördlichen Länder, dass es nicht ordnungsgemäß umgesetzt wird.

Wie heiße Kartoffeln

Ein Asylsystem, im Rahmen dessen über ein Dutzend nationale Bürokratien versuchen, die Antragsteller wie heiße Kartoffeln herumzureichen, kann nicht funktionieren. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) sollte für die Auslegung der Regeln hinsichtlich der Zuweisung von Flüchtlingen die Verantwortung übertragen bekommen – beispielsweise in der Frage, welches Land zuständig ist, wenn die Mitgliedsstaaten in Einzelfällen keine Übereinstimmung erzielen. Auch finanzielle Anreize für die Aufnahme von Flüchtlingen – etwa ein Pauschalbetrag pro Person – wären hilfreich.

Diese beiden Maßnahmen würden die Populisten nicht zufriedenstellen. Der Widerstand gegen Flüchtlinge und Migranten – und sogar die Dämonisierung dieser Menschen und ihrer Unterstützer – ist politisch ihr tägliches Brot. Doch eine Stärkung des EASO und höhere finanzielle Unterstützung sollten die aktuellen Spannungen abbauen, zumindest bis eine radikale Reform des europäischen Asylsystems erwogen werden kann. (Daniel Gros, 19.7.2018)