Bild nicht mehr verfügbar.

Dass einzelne Länder in kurzer Zeit die gesamte Währungsunion ins Wanken bringen, traf die EU-Politik unvorbereitet. Seither wird an einer gemeinsamen Krisenfeuerwehr getüftelt. Der Ausbau der gemeinsamen Sozialpolitik bleibt tabu.

Foto: Reuters/PHIL NOBLE

Sozialpolitik war in der EU schon immer Ländersache. Doch die Eurokrise hat tiefe soziale Gräben zwischen die Mitglieder gerissen, als die Arbeitslosigkeit etwa in Spanien oder Griechenland explodierte. Überschuldeten Staaten waren die Hände gebunden. Ad hoc eingeführte Rettungsmaßnahmen beschnitten durch Sparauflagen, die auf langfristige Stabilität abzielen, unmittelbar Sozialleistungen mitten in der Not.

Dass einzelne Länder in kurzer Zeit die gesamte Währungsunion ins Wanken bringen, traf die EU-Politik unvorbereitet. Seither wird an einer gemeinsamen Krisenfeuerwehr getüftelt, von besserer Bankenaufsicht bis zum Ausbau des Eurorettungsschirms. Ein Thema blieb aber weiterhin tabu: der Ausbau der gemeinsamen Sozialpolitik. Auch beim Treffen der EU-Sozialminister am Donnerstag und Freitag in Wien geht es nur um Detailfragen, wie den Einsatz von Robotik für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Zweifelsohne wichtig, aber weit entfernt von einem großen Wurf.

Schutzschirm für Arbeitslose

Experten stellen sich daher die Frage, wie ein sozialer Schirm über die gesamte Union gespannt werden kann, ohne dass manche Mitglieder überproportional zur Kasse gebeten werden. Damit es aus ökonomischer Sicht sinnvoll ist, eine Maßnahme zentral in Brüssel anzusiedeln, müssen einige Kriterien erfüllt sein: Die Vorlieben der einzelnen Bevölkerungen sollten sich einigermaßen decken, ansonsten läuft Brüssel Gefahr, mit der Rasenmähermethode über Einzelinteressen drüberzufahren. Außerdem sollte die EU sich nicht um Angelegenheiten kümmern, die keine Wirkung über die nationalen Grenzen hinweg entfalten. Für direkte Agrarförderungen der EU gibt es daher keinen ökonomischen Grund, sagt Benjamin Bittschi vom Institut für Höhere Studien.

Anders sieht es bei einer europäischen Arbeitslosenversicherung aus, argumentiert der Ökonom. Dies könnte vor allem in der Eurozone für mehr wirtschaftliche und soziale Stabilität sorgen, indem sogenannte asymmetrische Schocks abgefedert würden. Wenn also in Spanien die Arbeitslosigkeit explodiert, würde die Union aushelfen und somit das Vertrauen der Investoren in das Eurosystem stärken. Die notorische Ansteckungsgefahr innerhalb der Währungsunion wäre geringer.

Angst vor Trittbrettfahren

Wie es Schirme so an sich haben, hat die Sache einen Haken. Der politisch meistentscheidende Knackpunkt, ob etwas an die EU delegiert wird, ist die Furcht vor Trittbrettfahren. Kritiker fürchten, dass eine europäische Arbeitslosenversicherung dazu führt, dass die üblichen Nettozahler wie Deutschland, die Niederlande oder auch Österreich auf Dauer den Sozialstaat wirtschaftlich schwächerer EU-Länder mitfinanzieren. Athen, Rom oder Madrid hätten keinen großen Anreiz, ihre Staatsfinanzen für den nächsten Ernstfall auf Trab zu halten.

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt allerdings zu dem Schluss, dass es solche Fehlanreize auch im bestehenden System gibt. Denn die Unterstützung von Arbeitslosen betrachten Ökonomen nicht nur als Hilfe für Menschen in schwierigen Situationen, sondern im Lichte der gesamtwirtschaftlichen Stabilität. Dabei profitieren in einer Währungsunion alle Mitglieder davon, wenn ein Land durch einen finanziell abgesicherten Sozialstaat für Schocks gerüstet ist. Insgesamt sei es effizienter, eine europäische Arbeitslosenversicherung einzuführen, lautet der Schluss der Studienautoren.

Zeitliche Befristung

Die Empfehlung wird von einem großen Aber begleitet: Eine europäische Arbeitslosenversicherung sollte nur dazu dienen, kurzfristige Schocks abzufedern, ihr Bezug wäre zeitlich befristet. Außerdem sollte sie nur als Ergänzung zu den nationalen Systemen bestehen.

Damit ist die Gefahr einer einseitigen Lastenverteilung aber nicht gebannt, wie eine Gruppe von renommierten deutschen Ökonomen, darunter Ifo-Chef Clemens Fuest, in einer Studie zeigt. Für den Zeitraum von 2000 bis 2013 modellierten die Forscher, dass eine europäische Versicherung, die jedem arbeitslosen EU-Bürger für ein Jahr die Hälfte seines Gehalts auszahlt. Das Positive: Unerwünschte Verwerfungen durch regionale Krisen wären dadurch erfolgreich geglättet worden. Außerdem hätten Jugendliche besonders stark von einer europäischen Arbeitslosenversicherung profitiert, weil von vielen Ländern Ansprüche erst nach einer gewissen Zeit im Beruf entstehen. Aber das Modell zeigt klar: Manche Länder hätten über die gesamte Periode mehr eingezahlt, als sie erhalten hätten. Für Österreich, Luxemburg und die Niederlande hätte es kein einziges Jahr mit einem Plus gegeben.

Man könnte eine EU-Arbeitslosenversicherung aber auch so gestalten, dass der berechtigte Unmut über dauerhafte Transfers unbegründet wäre, sind die Ökonomen überzeugt.

Umschichten

Würde der Anspruch auf Arbeitslosenversicherung nur in Krisenzeiten greifen, hätten auch die Nettozahler in einigen Jahren profitiert. Eine gewisse Bereitschaft, netto mehr in den EU-Topf einzuzahlen, gibt es bereits. Damit der soziale Schirm ausgebaut wird, müsse man nur umschichten, schätzt IHS-Ökonom Bittschi. Etwa indem man die Agrarpolitik nationalisiert.

Befürworter der EU-Arbeitslosenversicherung gestehen ein, dass eine faire Lösung auf dem Reißbrett funktioniert, in der Praxis aber politische Hürden lauern. Derzeit ist der Ausbau der Sozialunion utopisch. In einer Analyse des Kommissionsvorschlags zum Budget schreibt der Ökonom Jens Südekum, dass "tendenziell umverteilende" Ausgaben gekürzt würden. Dafür sind mehr Mittel für Konjunkturmaßnahmen im Krisenfall geplant. Eigentlich wäre eine EU-Arbeitslosenversicherung nichts anderes. (Leopold Stefan, 20.7.2018)