455-mal bebte die Erde in der ostkasachischen Steppe im kleinen Dürfchen Yegyndybulak allein zwischen 1949 und 1963. Grund für die Erschütterungen war das nur 100 Kilometer von der Stadt Semipalatinsk entfernt gelegene, größte Atomtestgelände der Sowjetunion. Heute würde man davon ausgehen, dass solche Tests weit entfernt von menschlicher Zivilisation stattfinden.

Das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk ist nach wie vor Sperrgebiet, praktisch jedoch für jedermann zugänglich, den die erhöhten Messwerte radioaktiver Strahlung nicht abhalten. 113 Tests erfolgten über- und 383 unterirdisch.
Foto: DER STANDARD / Prantner

Doch die Eltern von Karipbek Kuyukov wanderten damals immer wieder den Hügel hinauf, um die explodierenden Atomwaffen samt ihrer Atompilze zu bestaunen. Auch wenn Ärzte und Regierung immer wieder die Ungefährlichkeit der "friedlichen Atomexplosionen" betonten, hatten viele der rund 300.000 Einwohner Semipalatinsks ein schlechtes Gefühl bei den insgesamt knapp 500 Atomwaffentests, deren summierte Gesamtsprengkraft mit rund 18 Megatonnen mehr als tausend Hiroshima-Bomben entspricht.

Verheerende Spätfolgen der Nukleartests

Karipbek Kuyukov kam 1967 zur Welt. Dass er ohne Arme geboren wurde, schloss man schon bald auf Spätfolgen der atomaren Tests während des Kalten Krieges in der Region zurück. Kuyukov verschrieb sich auch deshalb früh dem Kampf gegen die Tests. "Meine Hauptmission auf diesem Land besteht darin, alles nur Mögliche zu unternehmen, damit Menschen wie ich die letzten Opfer von Atomtests sind", sagte er später. Ende der 1990er kam fast die Hälfte aller in der Region geborenen Kinder als Fehlgeburten oder mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen auf die Welt. Tumore, Leukämie und Hautkrebs sind allgegenwärtig in der Region und werden sie wohl noch länger begleiten. Experten gehen davon aus, dass die Konsequenzen der nuklearen Strahlung noch über fünf bis sechs Generationen zu spüren sein werden.

Karipbek Kuyukov beim Malen.

Seine fehlenden Gliedmaßen hielten Kuyukov aber nicht davon ab, neben seiner Stimme auch seine künstlerische Ader zu benutzen, um die Leute wachzurütteln. Mit dem Pinsel im Mund oder zwischen die Zehen geklemmt, malte er Porträts von Betroffenen sowie Abbilder von Menschen, die einer nuklearen Detonation beiwohnten. Zwar studierte Kuyukov, der zwischenzeitlich zwei Armprothesen trug, erfolgreich im heutigen St. Petersburg, so richtig gewöhnen wollte und konnte er sich an seine künstlichen Arme aber nie, weshalb er sie wenig später ablegte. Der Kunstunterricht war während des Studiums dabei ein entscheidender Ausgleich für ihn. Er sagte später: "Ich wurde ein Künstler, denn eine Künstlerseele lässt sich durch eine körperliche Einschränkung nicht verdrängen."

Traum von einer atomwaffenfreien Welt

Erst 1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde Kuyukovs Wunsch nach der Schließung des Testgeländes Semipalatinsk nach einer erfolgreichen Bürgerinitiative – an der auch Kuyukov beteiligt war – endgültig umgesetzt. Ein Teilerfolg, dennn Kuykov träumt nicht nur von einer Welt ohne Atomwaffentests, er würde gerne alle Atomwaffen dieser Welt vernichtet sehen. Seit Jahrzehnten reist er deshalb als Botschafter des ATOM-Projects (Abolish Testing Our Mission) um die Welt – nach Hiroshima, Nagasaki oder Nevada –, erzählt seine Geschichte und zeigt seine Bilder, die stellvertretend für tausende Schicksale der Region, aber auch anderer Test- und Einsatzstätten stehen. Man hätte die Menschen der Region wie Versuchskaninchen behandelt und vielen ein sicheres Todesurteil ausgestellt, sagte er im vergangenen Jahr bei einer Rede im Zuge seines unermüdlichen Einsatzes für eine atomwaffenfreie Welt.

Dieser Einsatz wurde in dieser Woche ein weiteres Mal gewürdigt, als ihm der Nuclear-Free Future Award (NFFA) in der Kategorie Bildung verliehen wurde. Kuyukovs Einsatz "demonstriert seinen unglaublichen Mut für ein bedeutsames Leben als Künstler und Anti-Atom-Aktivist trotz aller physischer Barrieren, die er überwinden muss und trotz der Traumata, die ein Aufwachsen in einer Region mit sich bringt, in der zahlreiche Menschen mit Geburtsfehlern oder furchtbaren gesundheitlichen Problemen auf die Welt kommen und sehr viele Kinder früh sterben", sagte ein Jurymitglied.

Karipbek Kuyukov bei einer Rede vor der CTBTO (Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen).
Foto: CTBTO

Die Auszeichnung soll am 24. Oktober in Salzburg verliehen werden. Die 10.000 US-Dollar Preisgeld will er zur Erhaltung seines Heimatdorfes Yegyndybulak zur Verfügung stellen, das durch den fortwährenden Abzug eine Geisterstadt zu werden droht. Die in der Nähe befindliche Großstadt Semipalatinsk benannte sich 2007 mittlerweile übrigens in Semei um, was wohl auch eine Form der Vergangenheitsbewältigung darstellt. (Fabian Sommavilla, 21.7.2018)