Die zwei Chauffeure rauchen eine letzte Zigarette an den Wiener Stadtbahnbögen. Dann setzt sich der Jüngere, er ist Anfang zwanzig, ans Steuer des blauen Kleinbusses. Er ist wach, reagiert schnell, hält sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Die Autofahrt nach Billed dauert mit dem Pflegerinnentaxi sieben Stunden und sieben Minuten. In einem guten Taxi. In einem schlechten Taxi nur fünf Stunden und 28 Minuten. Ein gutes Taxi macht Pausen.

BiIled, das Ziel der Fahrt, ist ein 3000-Einwohner-Dorf im Westen Rumäniens. Dort sitzt Elena Popa in ihrer grün-weiß gefliesten Küche. Das Haus ist alt, aber gut ausgestattet. Den großen, ovalen Küchentisch und die zwölf hölzernen Sessel hat sie in Österreich gekauft und herbringen lassen. Weil Elena als 24-Stunden-Pflegerin jedes zweites Monat in Österreich verbringt, ist sie eine der reicheren Frauen im Dorf.

In der einen Hand hält sie eine Zigarette, in der anderen ihr Smartphone. Auf dem Bildschirm: eine junge Frau. Sie liegt im Bett und hält eine Bibel in die Kamera. Auch wenn das runde Gesicht verpixelt ist, erkennt man, dass sie weint. Sie sagt, dass sie für Elena Popa betet. Elena Popa weint nicht, sie lacht. Das tut sie oft. Auch wenn sie, so wie heute, eigentlich Angst hat. Elena ist 52, aber die grauen Haare, die tiefen Falten und die tätowierten Augenbrauen lassen sie älter aussehen. Sobald sie lacht, klingt sie, als wäre sie keine zwanzig.

Abhängigkeit und Ausbeutung

Elena Popa wird von einer Vermittlungsagentur verklagt, weil sie die Mechanismen eines Systems offengelegt hat. Eines Systems des Machtmissbrauchs, der Abhängigkeit und der finanziellen und emotionalen Ausbeutung. Eines Systems, bestehend aus Knebelverträgen mit unfairen Konkurrenzklauseln, Scheinzertifikaten und lebensgefährlichen Busfahrten mit übermüdeten Fahrern. Das System der 24-Stunden-Pflege, das für viele der 60.000 24-Stunden-Kräfte, die momentan in Österreich arbeiten, Alltag ist.

Elena hat heute schon dutzende Anrufe bekommen, aus Deutschland, Österreich, der Slowakei, aus Rumänien. Allesamt von 24-Stunden-Betreuerinnen. 87 neue Nachrichten auf Facebook. Der vierte Kaffee an diesem Nachmittag. Die zweite oder dritte Schachtel blaue Marlboro. Morgen um neun Uhr früh beginnt der Prozess. Von den Frauen, die heute anrufen, wird keine auftauchen. Morgen Abend wird die Frau mit der Bibel noch einmal anrufen und weinen.

Von einem kleinen rumänischen Dorf aus will Elena Popa die Pflegebranche verändern. Tausende Kolleginnen leisten ihr via Facebook leisen Beistand.
Foto: Philip Pramer

Erste Pause beim Pennymarkt

Die erste Pause macht das gute Taxi in Parndorf beim Pennymarkt. Sechs Kleinbusse stehen auf dem Parkplatz. Ihre Fahrgäste: Gastarbeiter und Pflegerinnen aus dem Osten. Sie kaufen Binden, Waschpulver und Mezzo Mix, das die Fahrer in den Kofferraum stopfen. Viel passt nicht mehr rein, jede Frau hat mindestens zwei Taschen und einen Koffer dabei. "Schau immer auf deine Sachen", sagt eine Pflegerin in gebrochenem Deutsch.

Auch der Kofferraum des schlechten Taxis ist voller Waschpulver. Billiger ist das Waschmittel und besser, sind sich die Frauen einig. Nur ein Fahrer sitzt im Taxi – das macht es zum schlechten Taxi.

Angi Masek saß im März 2014 neben einem übermüdeten Fahrer. Jetzt sitzt sie in einem Restaurant in ihrem Heimatort Reschitz. Angi greift mit zittriger Hand nach ihrem Kaffee. Sie kann ihre Finger nicht ausstrecken. Ein Schubser mit der rechten Hand ermöglicht es ihr, den Henkel mit dem Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand zu greifen. Eine Technik, die sie sich in den letzten drei Jahren mühevoll angeeignet hat. Sie nimmt einen Schluck.

Eigentlich wollte sie privat vom Turnus in Österreich heimreisen, erzählt sie, aber es wurde ihr untersagt. Es sei denn, sie würde dennoch das Geld für den Bus zahlen. Der Fahrer des Busses, mit dem Angi nach Reschitz zurückfahren wollte, saß seit 26 Stunden ohne Pause hinterm Steuer. Als sie durch den Plabutschtunnel fuhren, nickte er ein und knallte auf die Rückfläche eines Lkws. Angi war im Frontteil des Wagens eingeklemmt. Neun Tage verbrachte sie anschließend im Koma. An die neun Stunden vor und die drei Monate nach dem Unfall kann sie sich nicht erinnern. Ihre ganze rechte Hand ist zertrümmert. Und das Einzige, was sie von ihrer Agentur gehört hatte, war: "Rauchen kann sie ja noch mit der linken Hand." Heute würde sie jungen Rumäninnen abraten, als Betreuerinnen nach Österreich zu kommen.

Auch Fahrer werden eingeschüchtert

Die Sicherheit der Pflegerinnen wird vom Profitinteresse mancher Agenturen verdrängt. Die Männer, die die teils agentureigenen Busse fahren, werden genauso wie die Frauen eingeschüchtert und müssen Geld für die Agenturen lukrieren. Also fahren manche von ihnen bis zu 30 Stunden ohne Pausen durch Osteuropa.

Mit einem Finger tippt Elena auf der Tastatur. "Der Laptop ist schon etwas langsam", erzählt sie. Zu viele Dateien hätte sie gespeichert. Elena leitet eine Facebook-Gruppe mit über 22.000 24-Stunden-Pflegerinnen und -Betreuerinnen. Eigentlich ist das nicht dasselbe, denn eine Pflegekraft rund um die Uhr zu bezahlen wäre für die meisten Österreicher unerschwinglich. Aber in der Praxis werden die Begriffe vermischt.

Viele der Frauen schicken Elena ihre Verträge, Zertifikate oder Honorarnoten. "In privat", wie Elena sagt. Auf denen ist das Problem der Pflegebranche dokumentiert. Und weil Elena sie öffentlich gemacht hat, sind sie der Ursprung ihres Problems.

Denn viele der Zertifikate sind gefälscht. "Diese Frauen haben keine Stunde Schule gemacht", sagt Elena. "Sie kaufen diese Zertifikate im Bus oder auf der Straße, niemand hat sie gefragt, wo sie sie herhaben." 150 Euro bezahlen sie für den Beleg für eine Ausbildung, die sie nie absolviert haben, und die Erlaubnis, die österreichische Eltern- und Großelterngeneration zu pflegen.

Doch morgen geht es nicht nur um die 45.000 Euro Schadensersatz, die Elena zahlen muss, wenn sie verliert. Es geht auch ums Prinzip. Elena will, dass Pflegerinnen nicht mehr jeden Monat horrende Provisionen an die Agenturen zahlen müssen, dass sie nicht mehr mit einem Knebelvertrag an ihre Agenturen gefesselt werden. Und: "Wir wollen nicht mehr bedroht, beleidigt und terrorisiert werden. Das muss aufhören."

Zweite Pause bei Budapest

Ein gutes Taxi macht mehrere Pausen. Die zweite an einer Raststätte in der Nähe von Budapest. Die Fahrer essen Gulasch für fünf Euro. Bevor der Bus weiterfährt, verteilt die Frau am linken Fenster Schinkensemmeln, die Frau am rechten Fenster macht ein Kreuzzeichen und schließt die Augen. Während das gute Taxi durch das Flachland von Ungarn fährt, vorbei an Äckern, Wäldern und Folientunneln, überquert das schlechte, dafür schnelle Taxi bereits die Grenze nach Rumänien.

Die Frau auf dem Beifahrersitz verwickelt den Chauffeur in Gespräche, versucht, ihn wach zu halten. Rote Lichter bremsender Autos, unzählige bunte Leuchtschilder von Motels am Straßenrand und eine Autobahn, die nie zu enden scheint.

Ciprian arbeitete von September 2016 bis Jänner 2017 bei derselben Agentur, die nun Elena Popa verklagt. Er heißt eigentlich anders, doch seinen Namen will er lieber nicht in der Zeitung lesen. Im Auftrag der Agentur hat er Dokumente gefälscht, hat beglaubigte Übersetzungen erstellt, ohne dafür qualifiziert zu sein, wie er heute erzählt. Bis er entschied, aufzustehen. Er steht mit Sportjacke und Kopfhörern im Ohr auf einer Terrasse oberhalb von Reschitz. Reschitz ist in Wälder und weite Hügellandschaften eingebettet. Klassisch realsozialistische Wohnblöcke und Einfamilienhäuser verleihen der Stadt ihren Charakter.

"Das rote Gebäude dort drüben ist der ehemalige Konzern für Schiffsmotoren und Turbinen", erzählt Ciprian. "Bei den größten Firmen in der Stadt waren vor der Wende insgesamt um die 30.000 Mitarbeiter beschäftigt. Nach zehn Jahren waren es nur noch je tausend."

Mindestlohn liegt bei 300 Euro

Nach der Wende verloren unzählige Metallarbeiter ihren Job und Reschitz, das einstige Juwel der Stahlindustrie, sein Gesicht. Ciprians Blick schweift nach links, er zeigt auf ein Gebäude mit blauem Dach. Dort werden Airbags für einen schwedischen Konzern hergestellt, ungefähr tausend Menschen sind in diesem Unternehmen beschäftigt. "Natürlich ist das nichts im Vergleich zu dem, was die Stadt davor an Arbeitsplätzen hatte", sagt er.

Doch auch diejenigen, die in Reschitz noch Arbeit haben, kommen schwer über die Runden. Der Mindestlohn liegt bei etwa 300 Euro. Als Rumänien Mitglied der EU wurde, war die Hoffnung auf Wohlstand groß. Viele glaubten an neue Arbeitsplätze, an Sozialreformen und dass nun endlich alles besser werden würde. Besser wurde es, aber nur für wenige. Zu diesen wenigen gehören jene, deren Geschäftsmodell zur Goldgrube wurde. Ein Modell, bei dem jeder ein Stück des Kuchens abbekommt, die Unternehmen gleichermaßen wie die Arbeiterinnen. Ein Geschäftsmodell ohne Barrieren, das jeder ausführen kann: das Geschäft mit dem Pflegeexport.

"Mittlerweile gibt es in Reschitz an die 70 Vermittlungsagenturen, die die Frauen nach Österreich zu euren Alten bringen", sagt Ciprian. Im Umkreis sollen sogar 130 bis 140 angesiedelt sein. "Die Arbeit im Ausland ist verführerisch für die Frauen", sagt Ciprian. Verbringt eine Frau die Hälfte ihrer Zeit in Österreich, bleiben ihr im Monat etwa 600 Euro, viel mehr als in herkömmlichen Jobs. Die Agenturen wissen das.

Angi Masek saß in einem der Busse für die Pflegerinnen. Als sie durch den Plabutschtunnel fuhren, nickte der Fahrer ein und knallte auf einen Lkw. Angi war im Wagen eingeklemmt und lag neun Tage im Koma.
Foto: Philip Pramer

Agentur drohte mit 3.000 Euro Strafe

Beim morgigen Prozess wird entschieden, ob Ciprian als Elenas Zeuge genehmigt wird. Die Pflegerinnen, die ihr ihre Unterlagen schicken, kommen nicht infrage. Keine von ihnen will aussagen, zu groß ist die Angst, den Job zu verlieren.

Elena gehört zu den wenigen wirklich Selbstständigen in dieser Branche. Sie konnte sich von ihrer Agentur lösen. Auch wenn in ihrem Vertrag stand, dass sie im Falle der Kündigung 3.000 Euro* Strafe zahlen musste. Doch resolut wie Elena ist, hat sie sich dagegen gewehrt. Und durchgesetzt.

Eigentlich müsste sich die Wirtschaftskammer Österreich als gesetzliche Interessenvertretung um die Betreuerinnen kümmern, schließlich zahlen die Frauen als offiziell Selbstständige Kammerbeiträge. In der Fachgruppe Personenberatung und Personenbetreuung ist neben den Pflegerinnen ein buntes Potpourri von Berufsgruppen vertreten. Die Pflegerinnen teilen sich die Vertretung mit Lebens- und Ernährungsberatern – und mit den Vermittlungsagenturen.

"In den Fachvertretungen sitzen nur die Agenturen", sagt Roland Loidl vom Institut für Personenbetreuung, selbst in der Fachgruppe aktiv. Er kämpft mit seiner Partnerin Katarina Staronová, früher ebenfalls Pflegerin, gegen die Benachteiligung von 24-Stunden-Kräften. "Es ist unmöglich, dass sich die Frauen engagieren." Bei einem 24-Stunden-Arbeitstag bleibt nicht viel Zeit. Oft sprechen sie nur schlecht Deutsch und wissen nicht von der Existenz der WKO-Fachgruppe, viele Agenturen übernehmen den "Papierkram" für die Pflegerinnen.

Skandinavisches Modell

Wer dabei auf der Strecke bleibt, sind die Pflegebedürftigen und die Frauen, die ihnen ein würdevolles Altern ermöglichen wollen. Darum suchen Roland Loidl und Katarina Staronová nach Lösungsansätzen. Sie fragen sich, wie die konzentrierte Macht der Agenturen gebrochen und die Situation der Frauen, die aus wirtschaftlicher Not nach Österreich kommen, verbessert werden kann. Sie machen auf die prekären Bedingungen der Pflegebranche aufmerksam. Sie sind die Interessenvertretung, die die Wirtschaftskammer sein sollte. Katarina erzählt vom skandinavischen Modell. Sie hält es für ein gelungenes Pflegesystem, in dem der Staat die primäre Verantwortung für die Betreuung älterer Bürger trägt und sich mehr an Sach- als an Geldleistungen orientiert.

In Österreich hingegen ist die Pflege in erster Linie eine Familienaufgabe, bei der der Staat nur eine marginale, ergänzende Rolle einnimmt. Die Folge: ein ungezähmter Auswuchs von Agenturen. Die Nachfrage nach 24-Stunden-Betreuungspersonal steigt, und damit die Notwendigkeit einer Alternative. Roland könnte sich Gemeindepartnerschaften vorstellen, in denen Kommunen im In- und Ausland zusammenarbeiten und die Betreuung organisieren. "Denn jetzt stopfen wir hier Betreuungslöcher und machen woanders welche auf", sagt er.

Egal ob gutes oder schlechtes Taxi, die letzten Kilometer auf Rumäniens Straßen sind holprig. Die vergangenen Stunden roch es zunehmend nach Schweiß, im Bus ist es 25 Grad warm. Nun riecht es nach Waschpulver, das aus den riesigen Persil-Kartons auf die Koffer rieselt. Schließlich wird in einem kleinen Dorf angehalten. Es ist stockdunkel, nur ein paar schiefe Laternen werfen dämmriges Licht auf die Häuser. Die Seitentür geht klapprig auf. Das schlechte Taxi ist in Billed angekommen.

Zehn Kilo abgenommen

Der Fahrer übergibt das Gepäck und schmeißt die eingerostete Tür wieder zu. Die Frauen winken erleichtert zum Abschied. Erleichtert, weil sie ihre Familien gleich in den Arm nehmen können, und erleichtert, weil die Fahrt gut verlaufen ist. Als der Kleintransporter außer Sichtweite ist, springt eine kleine Frau mit grauen Haaren und Zigarette in der Hand aus dem Gebüsch.

Mit einem herzhaften Lachen ruft sie: "Willkommen!" Elena Popa ist ein herzlicher Mensch, sie umarmt auch Fremde, wenn sie sie für "die Guten" hält. Elena soll sich nicht zu sehr exponieren. Sie ist der Störenfried in der Betreuungsbranche. Die wenigsten Agenturen oder Fahrer sind gut auf sie zu sprechen. Oder auf ihre Besucher.

Es ist der Morgen des 1. November 2017, der Tag, an dem sich für Elena Popa alles entscheidet. Elena hat sich genau überlegt, was sie heute anzieht: ein knielanges Jeanskleid und schwarze Stiefel mit hohen Absätzen. Das Kleid sitzt heute lockerer als noch im Frühling. Seitdem sie Ende Juni – es war ein Sonntag, an dem sie gerade in Ungarn auf Urlaub war – vom Gerichtsprozess erfahren hat, hat sie zehn Kilo abgenommen.

Das Gericht in der Provinzhauptstadt Temeschwar entscheidet heute darüber, ob Elena 45.000 Euro Schadenersatz an eine rumänische Agentur zahlen muss. Doch an dem Urteil hängt viel mehr: Es könnte ein Präzedenzfall sein. Darüber, ob Pflegerinnen Missstände anprangern dürfen oder ob es sie in den finanziellen Ruin treibt.

Hunderte Pflegerinnen, für die Elena kämpft, zittern heute mit ihr. Jene Frauen, die in ganz Österreich gerade unsere Alten aufwecken und ihnen beim Anziehen helfen. Jene Frauen, die gerade auf den Autobahnen Osteuropas unterwegs sind. Jene Frauen, die gerade ihre Auszeit in der Heimat verbringen.

Proteste in Temeschwar

Wenige Tage später wird in Temeschwar ein ganz anderer Kampf ausgetragen werden: der Kampf gegen die Korruption, die in Rumänien für viele immer noch zum Alltag gehört. Vier Tage nach Elenas Verhandlung werden tausende Menschen auf die Straßen Rumäniens gehen, um dort gegen die geplante Aufweichung des Antikorruptionsgesetzes zu demonstrieren. Zehn Wochen später wird der rumänische Ministerpräsident Mihai Tudose zurücktreten.

Die Autofahrt von Billed nach Temeschwar dauert 35 Minuten. Sie führt durch Felder und Dörfer, die sich selbst überlassen wurden. Am Straßenrand verspricht eine einsame Plakatwand ein besseres Leben in Österreich. Die sonst so quirlige Elena ist heute ganz still, nur ab und zu wechselt sie ein paar rumänische Worte mit Ciprian, der sie zum Prozess begleitet.

Im Gerichtssaal sitzen gut zwanzig Zuschauer auf harten, schlichten Holzbänken. Nur eine Handvoll davon gehört zu Elena, viele sind es nicht, die heute da sind, um sie emotional zu unterstützen. Der Raum ist mit dunklem Holz vertäfelt, alle paar Minuten gehen Gerichtsbedienstete und Zuschauer durch eine große, knarzende Schwingtür mit einem abgegriffenen Messingknauf ein und aus. Unter dem rumänischen Wappen, einem goldenen Adler auf blauem Grund, sitzt die Richterin, eine junge Frau mit roten Haaren und roten Lippen. Die Anwälte treten vor und erzählen zwei Versionen einer Geschichte. Wer kein Rumänisch spricht, muss sich alleine auf die Gestik und Mimik der Anwesenden verlassen. Sie verrät: Allen Seiten ist das Ausmaß der Entscheidung bewusst.

Zeuge zugelassen

Als die Richterin ihre Entscheidung vorträgt, entspannen sich plötzlich Elenas Schultern, die die vergangene halbe Stunde immer steifer wurden. Elena dreht sich um und streckt den Daumen nach oben, ihre Freundinnen beginnen aufgeregt zu tuscheln.

Wieder unten vor dem Gerichtsgebäude, fällt Elena in sich zusammen. In der Hocke legt sie das Gesicht in ihre Hände und atmet tief durch. Die Richterin habe den Prozess vertagt, erklärt sie. Aber: Elena darf Ciprian bei der nächsten Verhandlung als Zeuge aussagen lassen. Er soll dann bestätigen, dass die Agentur in hunderten Fällen Zertifikate gefälscht und damit Sozialbetrug begangen habe.

Am Abend ruft die Frau mit der Bibel noch einmal an. Wieder weint sie, diesmal vor Freude. Sie gratuliert Elena zum Verhandlungsausgang. Innerhalb weniger Stunden hat sich die Neuigkeit über Ländergrenzen hinweg in der gesamten Pflegebranche verbreitet. Auf Elenas Laptop ploppen Facebook-Nachrichten im Sekundentakt auf, sie führt ein Videotelefonat nach dem anderen.

Prozess verloren

Drei Monate später wird Elena verurteilt. Sie muss zwar nicht die vollen 45.000, aber dennoch 5.000 Euro Schadensersatz zahlen.

Ein paar Wochen nach der Urteilsverkündung sitzt Elena in einem Café in Wien. Sie stößt gelassen einen Schwall Zigarettenrauch aus und lacht. Sie denkt nicht daran, aufzugeben. Nächste Station: das Höchstgericht in Bukarest. (Philip Pramer, Gabriele Scherndl, Elisa Tomaselli, 21.7.2018)