Wien – "Beide Geschichten stimmen nicht", greift Verteidiger Nikolaus Rast im Verfahren gegen Sukhraj S. zu einem ungewöhnlichen Mittel: Er sagt, dass sowohl die bisherige Schilderung seines Mandanten als auch die Darstellung der 15-jährigen P., die S. im Dezember vergewaltigt haben soll, falsch ist. Rast bietet dann dem Schöffengericht unter Vorsitz von Stefan Apostol dann aber auch gleich eine Version, die stimmen soll: Der 24 Jahre alte Zeitungszusteller und die Teenagerin hätten sich zufällig kennengelernt und einvernehmlich miteinander geschlafen.

Vorsitzender Apostol hat sich bereits Anfang Mai mit S. beschäftigt, damals musste der Prozess vertagt werden, da die 15-Jährige während ihrer Zeugenaussage zusammenbrach und weinend davonlief – der Vorsitzende wollte daraufhin ein psychiatrisches Gutachten über das Mädchen. Bei der Polizei und der ersten Verhandlung hatte der Angeklagte noch bestritten, mit P. überhaupt Sex gehabt zu haben – ein DNA-Gutachten widerlegte ihn.

Widersprüchliche Justizentscheidungen

Was folgte, waren widersprüchliche Entscheidungen der Justiz. Apostol ließ den Unbescholtenen noch im Gerichtssaal festnehmen, er sah als Haftgründe Tatbegehungs- und Fluchtgefahr, denn S. ist Inder. Das Oberlandesgericht Wien sah das anders und ließ S. frei. Bei einer Überprüfung seines Aufenthalts war der Angeklagte verschwunden – er sei nach Indien zu seiner kranken Mutter gefahren, lautete die Erklärung.

Ein internationaler Haftbefehl war die Konsequenz. Der wurde auch vollzogen: Als S. Mitte Juni freiwillig wieder in Wien-Schwechat landete, wurde er kurzzeitig festgenommen, aufgrund des aufrechten Beschlusses des Oberlandesgerichtes wieder freigelassen.

Da mehr als zwei Monate seit dem letzten Prozesstermin vergangen sind und die Schöffen gewechselt haben, beginnt Apostol also wieder von vorne. "Warum haben Sie bisher immer gesagt, sie hatten überhaupt keinen Sex mit Frau P.?", fragt der Vorsitzende. "Ich hatte Angst." – "Erzählen Sie uns Ihre Vorgeschichte. Wann sind Sie nach Österreich gekommen und warum?" – "2014. Ich hatte Probleme in Indien." – "Haben Sie auch einen Asylantrag gestellt?" – "Ja." – "War der berechtigt?" – "Nein."

In Tschechien geheiratet

Apostol schaut in seine Akten und verkündet, dass der Antrag noch 2014 abgelehnt worden und S. zur freiwilligen Ausreise aufgefordert worden sei. "Haben Sie das gemacht?" – "Nein, ich habe erst 2016 davon erfahren." – "Wie ist Ihr jetziger Aufenthaltsstatus?" – "Seit Oktober 2017 habe ich eine Aufenthaltsberechtigungskarte für fünf Jahre", sagt S., der mittlerweile eine Tschechin in Tschechien geheiratet hat.

Dank der Karte konnte sich S. selbstständig machen, er verdiente sein Geld als Lieferant für Apotheken und Zeitungszusteller. Mit zweiterer Aufgabe war er auch am 22. Dezember in Wien-Favoriten beschäftigt. Gegen Ende seiner Tour, irgendwann zwischen 3 und 4 Uhr morgens, habe er P. auf der Straße bemerkt, die ihn aufgehalten habe.

Das Mädchen sei einfach eingestiegen, sagt er nun. "In einer früheren Aussage haben Sie gesagt, sie habe gesagt 'Mama tot, Papa tot, Rettung rufen'?", hält Apostol vor. "Ja", lässt der Angeklagte übersetzen. "Haben Sie die Rettung gerufen?" – "Nein." – "Was wollte Sie überhaupt?" – "Weiß ich nicht."

"Sie hat angefangen"

Stattdessen sei er mit der 15-Jährigen seine Tour fertiggefahren, am Ende kauften sich die beiden in einer Tankstelle noch Bier, was auch auf Video festgehalten ist. "Wir haben uns schon während der Tour gegenseitig berührt. Sie hat angefangen", beteuert S., der P. für über 20 Jahre alt gehalten haben will. Irgendwann habe man sich in den Laderaum des Lieferwagens bewegt, wo es zum kurzen, freiwilligen Geschlechtsverkehr gekommen sei.

"Danach hat sie mein Handy genommen und wollte es mir nicht wiedergeben. Sie hat dann gesagt, ich soll ihr Geld geben. Ich habe mein Handy genommen, sie hat mir angedroht, dass sie mir Schwierigkeiten machen wird. Dann bin ich weggefahren", beschuldigt der Angeklagte P. der Erpressung.

Anschließend erhält der psychiatrische Gutachter Peter Hofmann das Wort. Er hält die 15-Jährige derzeit für nicht verhandlungsfähig, bei einer umfassenden Behandlung könnte sie in einem halben Jahr so weit sein. Derzeit absolviere sie aber weder eine medikamentöse noch eine Psychotherapie.

"Ausgeprägte traumatische Belastung"

Für den Sachverständigen habe das Mädchen Symptome einer "ausgeprägten traumatischen Belastung", wie sie etwa die Hälfte aller vergewaltigten Frauen entwickle. Sie könne ihre Wohnung kaum verlassen, verfalle beim Anblick von Lieferwagen in Panik und versuche sich mit Energydrinks wachzuhalten, um Albträumen zu entgehen.

Verteidiger Rast interessiert dagegen mehr die Vorgeschichte. Hofmann erklärt nämlich auch, dass P. aus "einem sehr ungünstigen Elternhaus" komme, die Schule mit elf abgebrochen habe, eine Geschichte von Alkohol- und Drogenmissbrauch aufweise und "schwere soziale Auffälligkeiten" diagnostiziert wurden, die nie behandelt wurden. Für den Verteidiger ein Indiz, dass P. nicht zwischen Einbildung und Realität unterscheiden könne.

Rasts Antrag auf Einholung eines zusätzlichen Gutachtens, das sich näher mit dieser Frage beschäftigen soll, wird vom Senat aber abgelehnt. Ebenso der Antrag auf Vertagung, bis P. selbst aussagen kann. Apostol verliest daher die Aussage des Mädchens. Sie war am Tattag mit ihrer Mutter und deren Freund auf dem Christkindlmarkt, danach sei es in einer Wohnung zu einem Streit mit der Mutter gekommen, P. lief davon.

"Irgendwie geborgen gefühlt"

Auf der Straße sei sie dann zu S. eingestiegen, der versprochen habe, sie nach Hause zu fahren. Sie habe sich in Gegenwart des 25-Jährigen "irgendwie geborgen gefühlt", daher habe sie sich beim Bierkonsum auch nichts gedacht. Danach soll er sie aber in der Fahrerkabine vergewaltigt haben.

Der Senat glaubt ihr und verurteilt S. nicht rechtskräftig zu zwölf Jahren Haft. Der bittet darum, vorerst nicht in Haft genommen zu werden, diesen Wunsch erfüllt Apostol ihm aber nicht. Er verhängt neuerlich wegen Tatbegehungs- und Fluchtgefahr die Untersuchungshaft, wogegen Rast neuerlich Beschwerde ankündigt. Bei der Überstellung ins Gefängnis unternahm er noch einen erfolglosen Fluchtversuch. (Michael Möseneder, 23.7.2018)