Die britische Premierministerin Theresa May hat derzeit keine guten Aussichten.

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Ungeachtet energischer Warnungen aus der Industrie will die britische Regierung unter Premierministerin Theresa May offenbar ihre Bevölkerung an die Möglichkeit eines chaotischen Brexits gewöhnen. Der EU-Austritt ohne jede Vereinbarung werde "zu einer sehr ernsten Gefahr", sagte Außenminister Jeremy Hunt am Montag in Berlin und machte dafür die Haltung Brüssels verantwortlich. Die EU sei anscheinend der Ansicht, man müsse nur lange genug warten, und dann werde Großbritannien schon nachgeben. Doch das werde nicht passieren, so Hunt. Brexit-Minister Dominic Raab teilte in Medieninterviews mit, sein Ressort werde die Vorbereitungen für den sogenannten "No deal"-Brexit verstärken. Dieser werde im kommenden April zu Versorgungsschwierigkeiten und "Unruhen" führen, prophezeit ein führender Manager.

Der britische Amazon-Chef Douglas Gurr gehörte vergangenen Freitag zu einer Gruppe hochkarätiger Manager bei einer Zusammenkunft mit Raab in Chevening, einem Landhaus der Regierung. LondonerMedienberichten zufolge machte der erst seit zwei Wochen amtierende Minister bei den Managern zwar Eindruck mit seiner Detailkenntnis der Brexit-Verhandlungen. Der Austrittsbefürworter habe aber nach Meinung von Teilnehmern den Ernst der Lage nicht erkannt.

Verstopfte Häfen

Dazu gehören nach der Vorhersage von Experten verstopfte Häfen an den Kanalküsten, Unklarheit über Flugrechte im europäischen Luftraum sowie Probleme mit der Lebensmittel- und Medikamentenversorgung. Eine entsprechende BBC-Frage tat Raab als "unwichtiges Detail" ab. Amazon-Manager Gurr zufolge, dessen Unternehmen auf der Insel 25.000 Menschen beschäftigt, könnten die Versorgungsprobleme jedoch unter Umständen auch Krawalle zur Folge haben, wie sie im Sommer 2011 mehrere englische Städte, darunter auch London, tagelang an den Rand der Anarchie gebracht hatten.

Auf der Luftfahrtschau in Farnborough hatten vergangene Woche führende Unternehmen der Branche ihrem Ärger über die Regierung Luft gemacht. Der Vorstandschef des weltweit tätigen Turbinenbauers Rolls-Royce, Warren East, prognostizierte "lästige und teure Vorratshaltung", falls nicht bald eine Vereinbarung über die zukünftige wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU getroffen werde.

Dass die Regierung mit den beiden neuen Ministern Raab und Hunt offenbar ihre Verhandlungstaktik ändert, dürfte dem Druck geschuldet sein, den konservative Brexit-Ultras auf die Premierministerin ausüben. Mays kürzlich veröffentlichtes Weißbuch sieht nicht nur die bereits vereinbarte Zahlung von mindestens 40 Milliarden Euro in die EU-Kasse vor sowie eine Übergangsfrist bis Ende 2020, in der Großbritannien praktisch ohne Stimmrecht EU-Mitglied bleibt. Darüber hinaus soll die Brexit-Insel auch in einem Binnenmarkt für Güter verbleiben, bei Dienstleistungen wiederum will sie eigene Handelswege gehen. Dagegen erheben nicht zuletzt kleinere, nordeuropäische EU-Mitglieder Einspruch wegen unfairen Wettbewerbs: Gerade in Hightech-Gütern machen Dienstleistungen bis zu 40 Prozent des Verkaufswerts aus.

Briten machen sich keine Sorgen

Wie gelassen die Bevölkerung die Aussicht auf einen Chaos-Brexit zu nehmen scheint, machte am Wochenende eine Umfrage der Firma Yougov deutlich. Der zufolge wollten im Fall eines zweiten Referendums, wie es von EU-freundlichen Konservativen propagiert wird, immerhin 38 Prozent für "no deal" stimmen. Bemerkenswert wirkt aber auch die Zahl jener, die mehr als zwei Jahre nach dem Austrittsvotum an der EU-Mitgliedschaft festhalten: Genau 50 Prozent wollten sich dafür entscheiden, der Rest befürwortete einen Deal auf der Grundlage des britischen Weißbuchs.

Für dessen Inhalte werben die Premierministerin und wichtige Ressortchefs ihrer Regierung diese Woche bei den europäischen Verbündeten. Nach Hunts Besuch in Berlin reisen diese Woche Vizepremier David Lidington nach Paris und Wirtschaftsminister Greg Clark nach Rom; May selbst will am Rande der Salzburger Festspiele den derzeitigen EU-Ratspräsidenten, Österreichs Kanzler Sebastian Kurz sowie den tschechischen Premier Andrej Babiš treffen. (Sebastian Borger aus London, 23.7.2018)