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Anders als der Haupteingang des Konzentrationslagers Buchenwald boten die Bücher der Häftlingsbibliothek so etwas wie ein Tor nach draußen.
Foto: Getty Images

"Ich habe jetzt des großen Italieners Dante Komödie begonnen. Eine schwere, aber genußreiche Lektüre. Erinnerst Du Dich, wo ich dieses herrliche Werk schon einmal begonnen habe? In Santa Margherita, am sonnigen Mittelmeer, wo wir beide so schöne, unvergeßliche Tage verbringen konnten!" Was diese unter anderen Umständen wenig bemerkenswerten Zeilen des KPD-Reichstagsabgeordneten Walter Stoecker an seine Frau interessant macht, ist der Ort ihrer Niederschrift: das Konzentrationslager Buchenwald.

Mehr als eine Viertelmillion Menschen wurde dort von 1937 bis 1945 gefangen gehalten, rund 60.000 davon kamen um. In dieser unerträglichen Lage konnte der Häftling Stoecker in Literatur und schönen Erinnerungen schwelgen? Er konnte, weil in Buchenwald eine Häftlingsbibliothek existierte – das "Glanzstück des Lagers", wie der erste Kommandant Karl Koch überzeugt war.

Diese Bibliothek, die zuletzt fast 16.000 Bände umfasste (2000 davon aus Mangel an Buchbindermaterial noch ungebunden), sollte als Zeitdokument erhalten bleiben. Allerdings ist der Großteil ihres Bestands auf der ganzen Welt verstreut – etliche KZ-Insassen nahmen nach ihrer Befreiung Bücher mit – oder vernichtet.

Sensationsfund

In der Gedenkstätte Buchenwald sind zurzeit nicht mehr als 115 Bände dieser besonderen Bibliothek zu sehen. Bald werden es um zwei Exemplare mehr sein. Denn am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Johannes-Kepler-Uni Linz stieß man im Zuge einer Revision der Institutsbibliothek kürzlich auf zwei Bücher mit dem Stempel "Häftlingsbücherei KL Buchenwald". "Sie kamen bei der Institutsgründung 1970 vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands zu uns", berichtet Institutsvorstand Marcus Gräser. Ein Sensationsfund, der noch dazu eine Entlehnkarte und einen Zettel mit Benutzerhinweisen umfasst. Der praktische Landwirt heißt das eine Buch, das andere befasst sich mit der Französischen Revolution.

Der Stempel "Häftlingsbücherei KL Buchenwald" ist deutlich auf dem Titelblatt und auf der Entlehnkarte zu sehen.
Foto: Bibliothek Geschichtswissenschaft der JKU

Was aber bewog das NS-Regime überhaupt dazu, an einem Ort des Terrors und der Menschenvernichtung eine Bibliothek für ihre Opfer einzurichten? "Wie auch die inszenierten Besuche von Kommissionen und ausländischen Journalisten sollten sie wohl vor allem den Gerüchten unter der Bevölkerung und den präzisen, bereits seit 1933/34 im Exil erscheinenden Berichten entlassener oder entflohener Häftlinge entgegenwirken", schreibt Rolf D. Krause in seiner Untersuchung zu Leseverhalten und Literaturrezeption in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.

Der Grundstock der Buchenwalder Bibliothek stammte aus den aufgelassenen KZs Bad Sulza, Sachsenburg und Lichtenburg. Erweitert wurde der Buchbestand zum einen durch "Spenden", welche die SS von den Häftlingen erpresste. Der Großteil dieses Geldes wurde unterschlagen, vom Rest kaufte die Lagerleitung 1009 Bücher. Zum anderen spendeten auch KZ-Insassen Bücher für die Bibliothek. "Die politischen Gefangenen, die sich gerade in diesem Lager eine starke Position erkämpfen konnten, erwirkten von der SS die Erlaubnis, dass sich die Häftlinge von zu Hause Bücher ins Lager schicken lassen durften", so Krause.

"Verbotene" Texte

Was sich für die Bibliothek eignete, entschied die SS. "Verbotene" Texte wurden an ihr vorbeigeschmuggelt. So gelangten auch Bücher ins Lager, die draußen in der "Freiheit" des NS-Reichs kaum noch zugänglich waren – von Karl Kraus bis Karl Marx. Auf diese Weise konnte bis 1945 die vermutlich größte Lagerbibliothek im Dritten Reich aufgebaut werden. Von Politik, Wissenschaft, Geschichte, Philosophie über die Klassiker und diverse Fachliteratur bis zu leichter Unterhaltungslektüre fand sich in ihr so ziemlich alles, was man auch in normalen Büchereien entlehnen konnte.

Auch die Lesepräferenzen unterschieden sich nicht allzu sehr von jenen der Menschen draußen. So entfiel ziemlich genau die Hälfte der Entlehnungen auf Belletristik mit Schwerpunkt Unterhaltungsliteratur. Dazu leisteten allerdings auch die SS-Leute ihren Beitrag, die sich vor allem für Abenteuer- und Kriminalromane interessierten. So hat etwa ein gewisser Hauptsturmführer Schmidt in einem Monat 38 solche Bücher entlehnt, wie sich Anton Gäbler im Buchenwald-Report erinnert.

Aber nicht alle Gefangenen in Buchenwald hatten das Privileg zu lesen. Es waren vor allem Häftlinge in Funktionen und günstigeren Arbeitskommandos, welche die Bibliothek benutzen durften. Ab 1942 war diese für jüdische Insassen generell verboten. Was brachten die Bücher denen, die sich ihrer bedienen durften? "Sie waren für die konspirative Arbeit der politischen Häftlinge, für strengstens verbotene religiöse Handlungen wie Gottesdienste (...) und für die Vorbereitung kultureller Blockabende im Rahmen des Möglichen wichtig", so die ehemalige Leiterin der Bibliothek der Gedenkstätte Buchenwald, Rosemarie Hofmann.

Als ab 1942 dringend medizinisches Personal gebraucht wurde, lieferten die Bücher für etliche Lagerinsassen die überlebensnotwendigen Fachkenntnisse. Und überhaupt: "Im Lesen selbst steckt bereits ein Wert, der offenbar weitgehend unabhängig von allen Inhalten der Texte mobilisierbar ist gegen den Versuch, Selbstbewusstsein und Selbstachtung des Gefangenen zu zerstören", ist Rolf D. Krause überzeugt.

Rares Privileg

Dass sich Selbstbewahrung und Selbsttäuschung hier sehr nahe sind, ist ihm bewusst. Denn die 65.000 erschossenen, zu Tode geprügelten, erhängten, verhungerten, erfrorenen oder in den Suizid getriebenen, an Erschöpfung, Krankheiten und den Folgen "medizinischer" Experimente gestorbenen Häftlinge sind genauso ein Faktum wie die wohlbestückte Bibliothek in Buchenwald.

Jean Améry gehörte nicht zu den Privilegierten mit Leseerlaubnis. Zudem war er mit Auschwitz in einem Lager, in dem die politischen Gefangenen nicht wie in Buchenwald oder Dachau die Lebensbedingungen der einfachen Häftlinge spürbar verbessern konnten. "In Dachau gab es eine Lagerbibliothek, in Auschwitz war für den gewöhnlichen Häftling ein Buch etwas kaum noch Vorstellbares."

Im Gegensatz zu anderen Überlebenden verloren für Améry die Literatur und das Lesen generell unter den unerträglichen Bedingungen des Lagerlebens und -sterbens an Bedeutung: "(...) die Zumutung, unter Umständen klassische Literatur als Ersatz für ein Lebensmittelpaket zu nehmen, hätte ich mehr verzweifelt als höhnisch zurückgewiesen." Und dennoch existierte daneben auch das Lesen als geistige Hilfe zur Flucht vor den Schrecken der KZ-Existenz: "Um meinen Hunger zu vergessen, vertiefte ich mich in Bücher", erinnerte sich etwa Samuel Graumann an seine Zeit in Buchenwald. (Doris Griesser, 29.7.2018)