Was haben Netflix und Co, was die Literatur nicht hat? Nichts! – Melanie Raabe vor dem Leopold-Museum. Ihr neuer Thriller "Der Schatten" spielt in Wien.

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Ja, die Fakten, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zuletzt präsentiert hat, sind erschreckend. Sie belegen, dass die Zahl derer, die Bücher kaufen, seit 2012 um 6,4 Millionen zurückgegangen ist. Woher dieses Problem rühren mag und wie ihm zu begegnen ist, dazu gibt es verschiedene Ideen.

Manche erkennen im Internet den Feind des Buches, für andere ist Netflix schuld, das Menschen reihenweise dazu verführe, Stunden vor dem Monitor statt mit einem Buch zu verbringen. Beides spielt eine Rolle, kann den Einbruch des Buchmarktes aber auch nicht ganz erklären. Zumal das Internet allen, die an und mit Literatur arbeiten, auch Chancen bietet.

Und genau genommen sollte der Erfolg von Netflix und ähnlicher Streamingdienste alle, die vom Erzählen leben, optimistisch stimmen. Schließlich zeigt er uns etwas, das wir immer wussten, aber vielleicht vergessen haben; nämlich, dass die Lust an Erzählungen nicht nur vorhanden, sondern schier unersättlich ist.

Was haben die, was wir nicht haben?

In letzter Zeit werde ich immer wieder gefragt, ob ich angesichts des Erfolges der seriellen Formate der Streamingdienste nun anders an meine Romane herangehe, ob vielleicht sogar mein Verlag mich dazu anhalte. (Nein, das tue ich nicht. Nein, das macht der Verlag nicht.) Da schwingt die Frage mit: Was haben die – also Netflix, Hulu und Co -, was wir nicht haben?

Die Antwort lautet: Sie haben einfach etwas anderes. Und daher müssen wir ihnen auch gar nicht hinterherrennen. Wir müssen die eigenen Stärken betonen und damit aufhören, die Apokalypse der Literatur zu beschwören. Schönheit, Poesie, Weltwissen und die großen Wahrheiten, Spannung und Liebe und Abenteuer ... Wir haben alles. Es ist alles da. Es ist angerichtet! Es kommen nur nicht mehr so viele zu Tisch.

Das ist, wenn man sich bewusstmacht, was für ein simples und zugängliches Vergnügen das Lesen ist, durchaus verwunderlich. Ein Roman kostet kaum mehr als manches Kinoticket und bietet eine erstaunliche Erfahrung: Wir blicken auf schwarze Zeichen auf weißem Grund – und halluzinieren regelrecht. Und da will uns noch einer erzählen, Bücher seien nicht sexy?

Das Schnelle, Grelle und Laute

Und dann die Ruhe, die man beim Lesen empfindet! Die Introvertierten – je nachdem, welcher Studie man glaubt, bis zu 40 Prozent der Bevölkerung, die das Schnelle, Grelle und Laute als anstrengend empfinden und dazu prädestiniert sind, sich mit viel Zeit in die Welten eines Buches zurückziehen – sind auch nicht von einer Generation auf die nächste ausgestorben.

Potenzielle Leserinnen und Leser gibt es also nach wie vor genug, und auch mit den Büchern ist eigentlich alles in Ordnung. Warum uns dann in Scharen die Leute davonlaufen? Ich glaube, das hat viel mit der Art und Weise zu tun, wie wir über Bücher reden und mit ihnen umgehen.

Man könnte meinen, dass wir alle nur das eine wollten: Menschen für Literatur, für Geschichten zu begeistern. Das ist nur die halbe Wahrheit. "Die Leute" sollen nicht nur endlich wieder (mehr) lesen. Sie sollen auch das lesen, was wir vermeintliche Experten uns so vorstellen. Für gewöhnlich ist das etwas Sperriges, idealerweise von einem verstorbenen Autor. Zwar sind sie selten geworden, aber es gibt immer noch Buchhändler, die über manche Wahl ihrer Kundschaft offen die Nase rümpfen.

Ein unappetitlicher Akt

Ein bekannter deutscher Kritiker wirft gar alles, was seiner Meinung nach nicht überzeugt – bevorzugt Publikumslieblinge – im TV demonstrativ in die Mülltonne; ein nicht nur in ästhetischer Hinsicht unappetitlicher Akt, der dem Buch schadet.

Wenn ich in ein Restaurant komme, bestelle – und dann erst einmal von der Kellnerin, vom Koch und vom Gastrokritiker nebenan darüber belehrt werde, dass meine Wahl eine schlechte ist und ich offensichtlich inkompetent bin, dann gehe ich. Und komme so schnell auch nicht wieder.

Wir müssen nicht nur kreative Wege finden, neue Leserinnen und Leser zu gewinnen. Es ist ebenso wichtig, die potenziell Lesewilligen nicht abzuschrecken. Wenn es dann noch gelingt, das richtige Buch im richtigen Moment in die richtigen Hände zu bringen, ist viel gewonnen. Dafür braucht es manchmal auch ein bisschen Experimentierfreudigkeit. Als mein erstes Buch 2015 in einem großen deutschen Verlag im Hardcover erschienen ist, stand unter dem Titel "Roman". Das Buch verkaufte sich ganz gut.

Als "Thriller" erkennbar

Als einige Monate später das Taschenbuch erschienen ist, entschied der Verlag, dass der Text nun unter dem Label "Thriller" laufen sollte. Da er sich im Spannungsfeld zwischen dem klassischen Roman und dem psychologischen Thriller bewegte, waren beide Lesarten – und Labels – korrekt und möglich. Allerdings wurde das Buch erst zu einem Hit, als es deutlich als "Thriller" erkennbar war. Auch das Cover wurde angepasst. Das Justieren dieser Stellschrauben machte einen großen Unterschied. Der Text blieb natürlich genau derselbe.

Dieses kleine Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass jedes Buch genau bei den Menschen ankommt, für die es gemacht ist. Das kann nur funktionieren, wenn wir für neue Wege offen sind – und der Blasiertheit, mit der wir bisweilen auf die Lesegewohnheiten anderer schauen, Lebewohl sagen. (Melanie Raabe, 25.7.2018)