Erroll Garner.

Foto: Nico van der Stam

Wien – Er stöhnt, er faucht, er begleitet seine Klavierrhetorik so verhaltensauffällig, wie es Pianist Keith Jarrett tut. Erroll Garner, Komponist des Klassikers Misty, ist am 7. November 1964 um Mitternacht im Amsterdamer Concertgebouw vor 2000 Fans in emphatischer Form. Sein Nightconcert zeigt einen Mainstreamkünstler, der auch seine Begleiter fordert – also Bassist Eddie Calhoun und Drummer Kelly Martin.

Garner (1921-1977) war damals das Gegenteil eines Unbekannten. Er war ein Star, seine Rolle als einer der populärsten Jazzpianisten war aktenkundig. Er hatte zwar mit Innovator Charlie Parker gespielt. Seit 1960 besaß er allerdings auch schon einen Stern auf Hollywoods Walk of Fame.

Gefinkelter Individualismus

Bis zur aktuellen Veröffentlichung (auf Mack Avenue Records) blieb dieser magische Abend in Amsterdam unentdeckt. Das Dokument liefert aber lehrreiche Belege des gefinkelten Individualismus: Innerhalb eines traditionellen Regelrahmens sucht ein Exzentriker, die Freiheit seiner spontanen Fantasie zu behaupten.

Bisweilen klingt Garner, als wollte Bebop-Aphoristiker Thelonious Monk im deftigen Stil von Fats Wallers spielen. Wie jener Pianist also, der 1943 starb, noch bevor der Bebop erwachsen wurde. Garner nimmt Standards wie My Funny Valentine, Over The Rainbow oder Cheek To Cheek "auseinander": Sie werden mit Intros versehen, die die Songs regelrecht verstecken.

Ungezügelter Geist

Garner, der wie eine Big Band klingen wollte und somit donnernde Akkordblöcke einsetzt, geht bisweilen auf eine dissonante Reise: Sie führt ihn bis zur spröden Ganztonleiter, ein kommerziell erfolgreicher Pianist wird quasi zum ungezügelten Geist: Er verfremdet Material, verfolgt spontan Ideen, auch wenn sie den Rahmen sprengen. Als wollte Garner sagen: Es gibt Freiheit auch im Korsett eurer Erwartungen.

Mag es nun zur Mode werden, dass in Archiven nach – bisweilen zu Recht – vergessenem Jazzmaterial gesucht wird: Wie John Coltranes Entdeckung Both Directions at Once verdient aber auch das Nightconcert einen Spitzenplatz in der Hitparade des zu Unrecht Vergessenen. (Ljubiša Tošić, 25.7.2018)