Seinen für das Frühjahr 2019 angekündigten Rücktritt als Chef des italienisch-amerikanischen Autokonzerns Fiat Chrysler (FCA) hat Sergio Marchionne nicht mehr erlebt. Er ist am Mittwoch in Zürich an den Folgen einer Schulter-Sarkom-Operation gestorben. Der 66-jährige Sohn eines nach Kanada ausgewanderten Carabiniere aus Chieti in der Region Abruzzen zählte zu den Ausnahmeerscheinungen unter den internationalen Topmanagern der vergangenen Dekade. Schließlich verdankt der Autokonzern Fiat, einst Nationalstolz Italiens, Marchionne das Überleben.

Hat Fiat gerettet und mit Chrysler den US-Markt erschlossen: Sergio Marchionne.
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Sogar der Vergleich mit Ferdinand Piëch wird nun bemüht – nicht zuletzt wegen Marchionnes autoritären Führungsstils, messerscharfen Verstands, hoher Selbsteinschätzung und der großen Verdienste für den Konzern.

Nach Turin geholt wurde Marchionne 2003 von Umberto Agnelli, kurz vor dessen Tod. Der Industriemanager und -berater Marchionne bewahrte Fiat vor der Pleite und führte den Autobauer aus der unglücklichen Allianz mit General Motors (GM). Die Mitgift von zwei Milliarden Euro, die er GM beim Ausstieg abpresste, brachte dem Philosophen und Betriebswirt (Studium in Toronto) den Ruf eines gewieften Taktikers ein. Aber was sonst sollte man von einem passionierten Pokerspieler erwarten?

Glück und Milliarden

Das so gewonnene Geld wurde klug investiert, verhalf dem angeschlagenen Autokonzern wieder auf die Beine. Doch Marchionne, der über Alusuisse Lonza in der Schweiz gelandet war und später die Führung des Zertifizierungskonzerns SGS übernommen hatte, war nicht nur Taktiker. Er hatte auch Visionen. Als der Finanzinvestor Cerberus 2009 den in der Finanzkrise schlingernden US-Autobauer Chrysler an den Mann bringen wollte, war der Fiat-Chef der Einzige, der darin eine Chance witterte. Fiat beteiligte sich mit einem Minderheitsanteil an Chrysler, der quasi gratis zu haben war, stockte diesen mit Geld der Banken sukzessive auf und formte aus den "zwei Einbeinigen", wie man damals in der Autobranche witzelte, den siebtengrößten Autokonzern der Welt: FCA Fiat Chrysler Automobiles mit Sitz in den Niederlanden.

Die Kreditschulden sind längst abgezahlt, doch der Plan, bis 2018 weltweit rund sieben Millionen Fahrzeuge zu produzieren und abzusetzen, ging nicht auf. FCA schaffte zuletzt knapp vier Millionen Fahrzeuge. Den notwendigen Finanzbedarf für die Bergfahrt deckte Marchionne, der viele Jahre als Rechtsanwalt und Wirtschaftsprüfer arbeitete, an den Kapitalmärkten. Es gelang ihm, die beiden FCA-Töchter Ferrari und CNH vom Konzern abzuspalten und an die Börse zu bringen – ohne dabei die Vorstandssessel von Fiat und Ferrari abzugeben. 2019 soll der Komponentenkonzern Magneti Marelli folgen.

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Ohne Fiat- und Ferrari-Chef Sergio Marchionne wäre für Agnelli-Spross John Elkann vom Fiat-Erbe nicht viel übriggeblieben.
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Den FCA-Aktionären rund um die Eigentümerfamilie Agnelli-Elkann gefiel's, sie streiften Millionengewinne ein. Die Schulden bei den Lieferanten sind inzwischen beglichen, die FCA-Bilanzen gesäubert. An Arbeit wird es dem nun eilig in den FCA-Chefsessel berufenen Mike Manley dennoch nicht fehlen, denn Marchionne waren Quartalsergebnisse wichtiger als Produktpflege, Investitionen in Elektromobilität und Hybridmotoren. Mit dem Rückbau der Dieselproduktion begann er später als die meisten Konkurrenten, er soll dafür radikaler erfolgen.

Abgasskandal

Nicht zu vergessen zahlreiche Gerichtsverfahren, denn auch Fiat steht wegen Abgasmanipulationen und Korruption am Pranger. Dennoch war auch Marchionne im Abgasskandal ein Mann klarer Worte: "Wer uns mit dem deutschen Unternehmen vergleicht, hat etwas Illegales geraucht."

Für die Beschäftigten und die italienischen Gewerkschaften war die Ära Marchionne ein Trauerspiel. Die Zahl der Fiat-Mitarbeiter in Italien schrumpfte von 130.000 zur Jahrtausendwende auf 29.000 – und sie dürfte weiter sinken, Werksschließungen inklusive.

Der Pokerspieler

Privat galt der Kettenraucher Marchionne als scheu, er verabscheute öffentliche Empfänge und gesellschaftliche Events, galt als "Arbeitstier", das mehr Zeit im Konzern verbrachte als sonst wo. Wohl nicht zufällig wurde seine Assistentin Manuela (47 Jahre) auch seine Lebensgefährtin. Der Vater zweier erwachsener Söhne (aus erster Ehe) liebte aber auch das Kartenspiel. Mit seinen engsten Mitarbeitern spielte er während der häufigen und langen Flugreisen Poker. Oder Scopa mit Sergio Chiamparino, dem Präsidenten der Region Piemont und früheren Bürgermeister von Turin. Bei dem italienischen Kartenspiel gewinnt, wer alle Karten einsammelt, also den Tisch leerfegt. Er war ein schlechter Verlierer, heißt es. (Thesy Kness-Bastaroli, 25.7.2018)