Nicht immer ist das britische Parlament so voll wie hier. Wer aus triftigen Gründen nicht zu Abstimmungen kommen kann, bekommt bislang einen Pair zugewiesen. Wird diese Regelung in Zukunft durch Proxy-Votes obsolet?

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Der vermeintliche "Betrug" an ihr entfachte eine erneute Debatte um das Pairing im britischen Parlament: Jo Swinson.

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Wir wählen Vertreter in die nationalen Parlamente, um uns entsprechend vertreten zu fühlen. Inwiefern das immer gelingt, ist eine Streitfrage, aber grundsätzlich ist es jenes Verständnis der repräsentativen Demokratie, welches den modernen Parlamentarismus prägt.

Nun haben sich die Urväter der Volksvertretungen freilich auch so ihre Gedanken gemacht, wie damit umzugehen ist, wenn es einem von ihnen krankheitsbedingt oder beruflich unmöglich sein sollte, seine Stimme bei entscheidenden Gesetzesanträgen vor Ort abzugeben. Ein "Gentlemen's Agreement" war die Lösung. Für jeden verhinderten Abgeordneten solle ein anderer – welcher plante, gegenteilig abzustimmen – einfach auch auf seine Stimme verzichten. So würde sich die Wirkung des "Nichtvotums" quasi aufheben.

Festgeschrieben wurde das sogenannte "Pairing" – die "Paarbildung" oder "Koppelung" – weder in den Satzungen des britischen noch in denen des kanadischen, neuseeländischen oder australischen Parlaments. Dennoch wird es dort seit dem 18. Jahrhundert bis heute noch praktiziert. Dass dieses Relikt des Parlamentarismus aus einer Zeit stammt, wo Frauen in den Vertretungskammern schlichtweg nicht vorhanden waren, wurde erst kürzlich wieder deutlich.

Eine Abmachung für Gentlemen

Jo Swinson, schottische Abgeordnete der Liberal Democrats, befindet sich derzeit in Karenz, nachdem vor wenigen Wochen ihr Sohn auf die Welt kam. Aufgrund der Tatsache, dass sie dadurch logischerweise einige Wochen ihren Job nicht ausüben kann, ist der Wahlkreis East Dunbartonshire derzeit quasi ohne Stimme im britischen Unterhaus. Diesen demokratiepolitischen Malus soll das Pairing-System ausgleichen. Ihr wurde deshalb nach Vermittlung durch die Fraktionsvorsitzenden ein Pair aus den Reihen der konservativen Tories zugeteilt, Brandon Lewis.

Jo Swinson zeigt sich auf Twitter verärgert über das gebrochene Versprechen der Regierung May.

Wie "abgemacht" verzichtete Lewis am 17. Juli ganze sieben Mal auf sein Stimmrecht. Zweimal jedoch brach er das "Gentlemen's Agreement", um sich in besonders heiklen – weil knappen – Abstimmungen auf die Seite der Regierung zu schlagen. Eine "Verwechslung", ein ungewollter Fehler, wie Lewis später zu schlichten versuchte. Mit 307 zu 301 beziehungsweise 305 zu 301 waren beide Entscheidungen, bei denen er mitvotierte, tatsächlich denkbar knapp (unter anderem ging es um den Verbleib in der Zollunion, falls kein Brexit-Deal zustande kommen sollte). Entscheidend war die Stimme Lewis letzten Endes jedoch nicht. Ein massiver Vertrauensbruch war es aber allemal.

Rücktrittsaufforderungen

Das Medienecho und die massive Kritik der Opposition inklusive zahlreicher Rücktrittsaufforderungen zwang die Tories dann auch zu einer Stellungnahme. Aus Parteikreisen war zu hören, dass der Fraktionsvorsitzende Julian Smith mehrere Abgeordnete dazu aufrief, ihre Pairing-Abmachung zu ignorieren und mit der Regierungslinie zu stimmen. Lewis tat dies als Einziger.

"Wir nehmen Pairing sehr ernst, und wir würdigen dessen Wert für das Parlament. Wir werden auch in Zukunft Pairs für Abgeordnete stellen, die schwanger sind oder ein neugeborenes Baby haben", sagte Premierministerin Theresa May später.

Das Verhalten von Lewis ist allerdings keineswegs ein Einzelfall. In der langen Geschichte des angelsächsischen Parlamentarismus gab es immer wieder Fälle, wo eine entsprechende Abmachung gebrochen oder überhaupt im Vorhinein abgelehnt wurde, was mitunter kuriose Folgen hatte.

Keine Stunde in China

1976 beschuldigten die Tories die Labour Party, einen Abgeordneten, der als Pair bereits den Saal verlassen hatte, nachträglich wieder reingeholt zu haben, um abzustimmen. In einem besonders kuriosen Fall bezichtigte die Opposition die regierenden Tories, dieselben drei Abgeordneten der Konservativen als Pairs, sowohl für drei Liberal Democrats, als auch für drei Labour-Abgeordnete, eingesetzt zu haben. Labour-Abgeordnete Shirley Williams musste daraufhin just nach ihrer Landung in China das Flugzeug sofort wieder betreten, um bei einer entscheidenden Abstimmung im Unterhaus anwesend zu sein.

2017 sorgten auch die Bilder der kranken, Pyjama tragenden Labour-Abgeordneten Naz Shah für Aufsehen, die in einem Rollstuhl vom Krankenhaus ins britische Unterhaus geschoben werden musste, um ihre Stimme abzugeben. Ein Pair soll seitens der Tories abgelehnt worden sein, was diese abstreiten.

Proxy-Votes und andere Alternativen

Alternativlos ist das Pairing-System jedoch keineswegs. Immer wieder gab es Bemühungen seitens der Abgeordneten in britischen oder australischen Parlamenten, das sogenannte Proxy-Voting einzuführen. Dabei wird die Stimme eines verhinderten Abgeordneten einfach einem vertrauten Kollegen innerhalb der eigenen Partei übertragen. Auf diesem Wege wäre man nicht nur nicht länger auf das Wohlwollen politischer Gegner angewiesen, sondern Wahlkreise, die von einer schwangeren Frau oder jungen Mutter (oder einem Vater in Karenz) vertreten werden, hätten somit auch eine permanente Stimme im Parlament.

Christine Jardine, Abgeordnete der Liberal Democrats für Edinburgh West, machte sich zuletzt auch für das System der Proxy-Votes stark. Es sei unerklärlich, warum eine Regierung, die versprochen habe, Benachteiligungen für Frauen am Arbeitsmarkt möglichst auszumerzen, nicht vor der eigenen Tür kehre. Rund ein Drittel aller Abgeordneten im britischen Unterhaus seien weiblich. So wie die 54.000 Britinnen, die jedes Jahr wegen Schwangerschafts- und Mutterschaftsdiskriminierung ihren Job verlieren, würden auch weibliche Abgeordnete immer noch diese Ungerechtigkeiten mit voller Härte zu spüren bekommen und könnten ihren Wahlkreis nicht entsprechend repräsentieren, beklagte Jardine.

Gerade Regierungen, die nur eine knappe Mehrheit in Parlamenten besitzen (wie etwa die aktuelle Regierung May), dürften solchen Vorschlägen eigentlich auch etwas abgewinnen können: Schließlich droht bei jeder Grippewelle doch ein Misstrauensvotum der Opposition, sofern das "Gentlemen's Agreement" des Pairings wieder einmal gebrochen wird. (Fabian Sommavilla, 29.7.2018)