Wien – Georg Olschak, Vorsitzender des Geschworenengerichts im Mordprozess gegen Nacer N., lernt an diesem Arbeitstag einiges über afghanische Moralvorstellungen. Nicht allem kann er auf Anhieb folgen, er bemüht sich aber wacker, Licht in die Vorfälle zu bringen, die sich am 31. Jänner in Wien-Penzing abgespielt haben.

Sicher ist, dass der 48-jährige Angeklagte den 25 Jahre alten Herrn M. zunächst in einer Wohnung zweimal mit einem spitzen Gegenstand attackiert und verletzt hat, ehe das Opfer in Panik aus dem zweiten Stock auf die Straße sprang und schwer verletzt liegenblieb. Für die Staatsanwältin war das ein Mordversuch, Verteidiger Ernst Schillhammer sieht dagegen nur eine Körperverletzung.

Angeklagter führte Schrödingers Ehe

Weniger sicher ist bereits das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen Angeklagtem N. und der 33-jährigen Frau R., der die Wohnung gehört. Man könnte es als Schrödingers Ehe bezeichnen. Nach österreichischem Recht ließen sich der Afghane und die Iranerin nach über 15 Jahren und vier Kindern scheiden, auch nach islamischem Recht trennten sie sich 2015. Danach wurde die Verbindung im religiösen Sinne aber wiederaufgenommen – sie sind also gleichzeitig geschieden und verheiratet.

Auslöser der Trennung sei gewesen, dass seine Gattin 7.500 Euro zahlte, damit eine männliche Facebook-Bekanntschaft von Kabul nach Österreich kommen könne. "Da hat sie sich getrennt", lässt N. übersetzen. "Ich habe dann im zehnten Bezirk gewohnt, sie hat den Herrn in ihrer Wohnung aufgenommen. Ich hatte kein Problem damit, wir waren ja getrennt", beteuert der seit 2012 in Österreich lebende Angeklagte.

"Dann hat der Herr aber gesagt, er hat eine Frau und zwei Kinder, da hat meine Frau gesagt, sie heiratet ihn nicht." – "Das liegt nahe", zeigt Olschak Verständnis. Dann wird es wieder kompliziert: N. sagt, er sei danach wieder mit seiner Frau zusammengezogen. Bei der Polizei hatte er noch angegeben, einmal im Monat bei ihr übernachtet zu haben, die älteste Tochter sprach von ein- bis zweimal pro Woche, nun sagt der Angeklagte, er habe täglich dort geschlafen.

Gattin soll mehrere Affären gehabt haben

Wirklich glücklich dürfte die Beziehung dennoch nicht gewesen sein. N. ist überzeugt, dass er mehrere Nebenbuhler gehabt hat, als letzten Herrn M., den Verletzten. Seine Informationsquelle: die 18-jährige Tochter. Deren Handy war nämlich irgendwie mit dem der Mutter verbunden, sodass Nachrichten synchronisiert wurden.

Am 31. Jänner habe ihn seine Tochter über den Inhalt der Nachrichten informiert, sagt der Angeklagte. "Im November war sie zwei Nächte mit einem anderen Mann – einem Farbigen – in Salzburg im Hotel", habe er so erfahren. Und am Tattag wollte sich Frau R. in der Wohnung mit einem Mann treffen, dem sie zuvor Nacktbilder geschickt hatte. "Meine Tochter hat mir gesagt, sie muss weg, sonst verstößt sie ihr Verlobter!", verrät N. dem Gericht. "Moment – Ihre Tochter wird verstoßen, wenn deren Mutter ein Verhältnis hat?", ist der Vorsitzende verwirrt. "Ja."

In der Wohnung versteckt

N. sagt, er habe sich in der Wohnung versteckt, dann sei seine Frau heimgekommen, habe Kekse und Tee vorbereitet, bis Herr M. geläutet habe. Als seine Frau im Schlafzimmer verschwunden ist und sich umgezogen hat, sei er aktiv geworden. "Und dann habe ich nichts mehr verstanden", sagt der Angeklagte unter Tränen. – "Dann zerfließt er im Selbstmitleid", murmelt Olschak, ehe er stutzt. "Moment, was haben Sie nicht verstanden?"

"Sie gingen ins Schlafzimmer, da habe ich das Kebabmesser genommen." – "Wieso haben Sie das daheim?" – "Weil ich mit Messern arbeite." – "Ich arbeite mit Talaren und habe auch keinen daheim." – "Ich habe es zwei Tage vorher von meiner anderen Wohnung mitgenommen für das Lokal, in dem ich arbeite."

Tatwaffe mit 55-Zentimeter-Klinge

N. betont aber, das Messer mit 55 Zentimeter Klingenlänge wieder weggelegt zu haben. "Ich habe mir gedacht, was aus den Kindern werden soll, wenn ich den umbringe", erklärt der Unbescholtene. Also habe er stattdessen einen flachen, aber spitzen Kebabspieß genommen und den Nebenbuhler damit zweimal attackiert – zweimal wollte er ihn auf den Kopf schlagen, einmal gelang dies, beim zweiten Versuch schützte sich M. mit dem Arm und erlitt eine Schnittwunde samt durchtrennten Sehnen. Das Opfer sei dann geflüchtet. Da die Eingangstür versperrt war, müsse er dann aus dem Fenster gesprungen sein.

Etwas verwirrend beginnt die Zeugenbefragung von Frau R. – die fragt nämlich, wer Herr M. sei. "Der aus dem Fenster gefallen ist", hilft Olschak der Frau. "Ach so, ich kenne ihn als J.", klärt sich die Sache auf. Sie kenne den 25-Jährigen seit Dezember 2017 via Facebook, er habe ihr angeboten, sie beim Deutschlernen zu unterstützen. Beziehung habe es aber keine gegeben.

Das sei auch der Grund für das Treffen gewesen, das von ihrem Irgendwie-Gatten dramatisch gestört wurde. Sie habe noch versucht, das Missverständnis aufzuklären, schildert sie unter Tränen.

Drohung mit Abnahme der Kinder

Dass N. aber versucht habe, ihre Aussage bei der Polizei zu beeinflussen, bestreitet sie. Laut Anklageschrift habe N. gedroht, die Nacktbilder ihrer Familie und Bekannten zu schicken. "Nein, er hat mich nicht bedroht. Er hat nur gesagt, dass er die Kinder nimmt", sagt sie. "Da hat aber das österreichische Bezirksgericht auch noch ein Wörtchen mitzureden", merkt der Vorsitzende an. "Ich kenne die österreichischen Gesetze nicht", entschuldigt sich die westlich gekleidete Zeugin.

Olschak hält R. dann ihre Polizeiaussage vor, wonach N. auch gesagt haben soll, M. sei billig davongekommen, er hätte sonst M. und R. beide getötet. "Haben Sie diese Drohung ernst genommen?", fragt die Privatbeteiligtenvertreterin, die für R. 2.500 Euro Schadenersatz haben will. "Nein. Das mit den Kindern schon, das mit dem Umbringen nicht", lautet die etwas überraschende Antwort.

Der Vorsitzende hat auch noch eine Frage: "Was würde passieren, wenn der Angeklagte die Nacktbilder verschickt?" – "Ich würde mein Ansehen und meine Ehre verlieren", bescheidet ihm die Zeugin.

In Todesangst aus Fenster gesprungen

M. sagt interessanterweise nichts von einem Deutschlernangebot aus, bestreitet aber ebenso eine sexuelle Beziehung mit Frau R., die er davor einige Male zu einem Kaffee getroffen haben will. Vom Angriff sei er völlig überrascht worden, in Todesangst sei er aus dem Fenster gesprungen.

An einen Mordversuch glauben die Geschworenen schließlich nicht. Das nicht rechtskräftige Urteil: drei Jahre Haft wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung. (Michael Möseneder, 30.7.2018)