Sein Erbe, von Helmut Altrichter beredt dargestellt, will nicht vergehen: Stalin-Statue, anno 2018 bereit zum Abtransport.

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Als die Bolschewiki sich im Herbst 1917 anschickten, die Macht in Russland an sich zu reißen, hatte noch niemand den Genossen Stalin – eigentlich: Jossif Wissarjonowitsch Dschugaschwili – auf dem Plan. Konkurrenten wie Leo Trotzki bemühten sich lange später, Stalins Anteil an der Oktoberrevolution kleinzureden.

Kaum eine Eigenschaft des Georgiers sprach für eine Übernahme der totalen Macht durch ihn. Als abenteuerlustiger Provinzler hatte er sich in den Augen Lenins früh unentbehrlich gemacht. Besonders ins Auge gestochen war diesem Stalins kriminelle Energie. "Koba" – so Stalins erster Spitzname – hielt sich in Gewaltfragen nicht ängstlich mit humanistischen Bedenken auf.

In entlegenen Winkeln

Noch eine Einsicht wird durch Helmut Altrichters wunderbar nüchterne Stalin-Biografie (Der Herr des Terrors) nach Kräften befördert: Der spätere Herrscher über die sozialistische Hälfte der Welt hatte als junger Verbannter mehrmals Strafen in entlegenen Winkeln des Zarenreichs abzusitzen. Den bolschewistischen Terrorapparat mitsamt seinem Lagersystem (Gulag) versteht nur, wer die Strukturen der alten Repression parallel zu den stalinistischen im Gedächtnis behält.

So zieht sich die Logik der Delegation wie ein allerdings blutroter Faden durch die Geschichte der Sowjetunion. Immerzu geht es Stalin, dem Volkskommissar und späteren Generalsekretär, um die Durchsetzung von Direktiven. Die ungefestigte Zentralmacht muss um ihre Autorität in den entlegeneren Provinzen bangen. Das Geschäft des Regierens, seit 1917 von Amateuren betrieben, folgt nicht von ungefähr dem Modus permanenter Krisenbewältigung.

Auf Liquidationskurs

Nicht nur, dass die Bolschewiki nach Lenins Tod 1924 kopflos agieren. Stalin, der seine Konkurrenten um die Macht ausbremst, beherzigt als Autokrat im Wesentlichen den alten Woody-Allen-Witz: Bloß weil er paranoid war, heißt das noch lange nicht, dass nicht tatsächlich alle gegen ihn und seine Parteigenossen eingestellt waren. Die aberwitzige Durchsetzung der Kollektivierungsmaßnahmen produzierte Gegner ("Klassenfeinde") am Fließband. Spätestens mit der Kampagne zur "Liquidierung des Kulakentums als Klasse" 1929/30 wurde die sowjetrussische Lebenswelt für Millionen Unschuldiger die Hölle auf Erden. Tatsächlich nahm der Terror permanent zu. Nicht nur die Masse der Bauern setzte sich gegen die blindwütigen Verordnungen der Zentralmacht, verkörpert durch den Willen Stalins, zur Wehr.

Immer neue Feinde

Der Terror, gipfelnd in den berüchtigten Schauprozessen, gleicht dem Versuch, durch die Benennung immer neuer Widersacher die eigene Inkompetenz im Umgang mit der Wirklichkeit zu beheben. Altrichter, Professor für neuere Geschichte in Erlangen-Nürnberg, zählt die Verballhornungen auf, mit denen Stalin und seine Henker immer neue Feinde schufen: "trotzkistische Doppelzüngler", "prinzipienlose Banden berufsmäßiger Schädlinge", "Diversanten, Spione, Mörder". Geahndet wurden: Schlendrian, Bummelantentum, "Hooliganismus". Der Tod hielt in der Sowjetunion unter Stalin millionenfache Ernte. Wiederum gilt es, Altrichters Buch vor sich, zu bedenken: Noch heute wird das Erbe von "Väterchen Stalin", des "verdienten Massenmörders des Volkes" (Brecht), in Russland verniedlicht und verklärt. Insofern bleibt die Fatalität seines Wirkens aktuell. (Ronald Pohl, 31.7.2018)