Fast jeden Tag erscheinen Berichte in der Weltpresse über den Vormarsch des Antisemitismus, und es wird im Allgemeinen betont, dass sich die Juden in Westeuropa bedrohter fühlen als noch vor ein paar Jahren. Bei der Auswertung von Umfragen gibt es unterschiedliche Schlussfolgerungen, ob der wachsende Judenhass eher von muslimischen Einwanderern getragen wird oder in erster Linie an Eskalationen im israelisch-palästinensischen Konflikt liegt.

Unabhängig von der jeweiligen Gewichtung der Hauptfaktoren, muss man das öffentliche Eingeständnis des französischen Innenministers Gérard Collomb in Erinnerung rufen. Nach dem Mord an der fünfundachtzigjährigen Jüdin Mireille Knoll, einer Holocaust-Überlebenden, in ihrer Wohnung mitten im Paris im März sagte Collomb: Ja, es sei wahrscheinlich wirklich so, dass die Juden in Frankreich nicht ganz sicher seien. Zumindest könne man einen Anstieg des Antisemitismus nicht leugnen.

Rund 40 Prozent der rassistisch oder religiös klassifizierten Gewalttaten in Frankreich wurden 2017 gegen Juden begangen, obwohl diese weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Elf Menschen wur- den in den vergangenen zwölf Jahren in Frankreich von muslimischen Extremisten getötet, weil sie Juden waren. In Frankreich leben über fünf Millionen Muslime und rund 500.000 Juden.

Dramatischer Aufruf

Die Lage der fast 300.000 Juden in Großbritannien kann mit der Situation in Frankreich keineswegs verglichen werden. Trotzdem löste ein dramatischer Aufruf gegen Labour-Chef Jeremy Corbin, gedruckt am Donnerstag auf den Titelseiten der drei im Königreich publizierten jüdischen Zeitungen, starken Widerhall in der jüdischen Gemeinde, und nicht nur dort, aus. Angesichts der Brexit-Krise der regierenden Konservativen rückt bei Neuwahlen ein Sieg von Labour in den Bereich des Möglichen. Nun warnen die jüdischen Zeitungen: "Eine Corbyn-Regierung würde eine existenzielle Bedrohung des jüdischen Lebens in diesem Land bedeuten."

Die seit 25 Jahren als Labour-Abgeordnete tätige Margaret Hope hatte Corbyn im Unterhaus als einen "antisemitischen Rassisten" beschimpft. Seit der Übernahme des Vorsitzes durch Corbyn im Jahr 2015 geben in der Partei Ideologen und muslimische Aktivisten mit ihrem als Antiamerikanismus und Antizionismus getarnten Antisemitismus dem Mythos der jüdischen Welt verschwörung neue Nahrung. Unter anderem sieht Labour solche Behauptungen nicht als judenfeindlich an, wie unter anderem: "Die aktuelle Politik Israels ist mit der der Nazis zu vergleichen" oder "Jüdische Menschen sind Israel treuer als ihrem Heimatland".

Die potenziell gefährlichen Folgen der Einäugigkeit der linken Globalisierungskritiker soll man nicht verdrängen oder unterschätzen. Natürlich darf man auch die Praxis der Netanjahu-Regierung, jede Israelkritik als antisemitische Stimmungsmache zu quali fizieren, nicht akzeptieren. Israel ist – trotz aller Fehler und Missstände – die einzige Demokratie im Nahen Osten. Gerade deshalb verurteilen so viele Menschen die zynischen Machtspiele Premier Netanjahus, so auch den Schulterschluss mit den autoritären Feinden der EU. (Paul Lendvai, 30.7.2018)