Gerhard Jagschitz auf einem Foto aus dem Jahr 2015.
Foto: APA/ROBERT JAEGER

Wien – Der Zeithistoriker Gerhard Jagschitz ist am Montag, dem 30. Juli, nach Komplikationen infolge einer Operation im Alter von 77 Jahren in Wien gestorben, wie nun seine Witwe bestätigte. Jagschitz befasste sich intensiv mit dem Nationalsozialismus, der breiteren Öffentlichkeit wurde er aber nicht zuletzt auch als Mahner und kritischer Kommentator der aktuellen Politik bekannt. Stets legte er Wert darauf, sich nicht auf den wissenschaftlichen Elfenbeinturm beschränken zu lassen und sein Fach einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Jagschitz wurde am 27. Oktober 1940 in Wien geboren. An der Universität Wien studierte er Psychologie, Pädagogik, Volkskunde, Ägyptologie, deutsche Philologie und Geschichte. 1968 wurde er mit einer Dissertation über "Die Jugend des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß" promoviert. Anschließend war er als Assistent am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien tätig, wo er sich 1978 habilitierte und 1985 zum Universitätsprofessor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte ernannt wurde. Zwischen 1994 und 2001 fungierte er als Vorstand des Instituts. 2002 ging Jagschitz in Pension, blieb aber weiterhin aktiv.

Mit Fakten gegen Holocaustleugnung

Öffentlich in Erscheinung trat der Historiker etwa 1992 als Gutachter im Prozess gegen den Herausgeber der rechtsextremen Zeitschrift "Halt", Gerd Honsik. In fünfjähriger akribischer Arbeit widerlegte Jagschitz Versuche zur Holocaustleugnung, die sogenannte "Auschwitz-Lüge". Mit nüchterner, wissenschaftlicher Distanz hat sich Jagschitz auch im Wiederbetätigungsprozess gegen Gottfried Küssel 1994 als Gutachter profiliert, in dem er zu dem Ergebnis kam, dass es sich bei der Volkstreuen Außerparlamentarischen Opposition (Vapo) um eine eindeutig nationalsozialistische Gruppe handle.

Als seine Forschungsschwerpunkte nannte Jagschitz anlässlich seines 75. Geburtstags neben Nationalsozialismus und Holocaust auch die Zweite Republik, die Rolle von Österreich in Europa sowie die österreichische Identität. Dabei forderte er stets einen differenzierten Blick auf die Geschichte ein – und rüttelte damit an so manchem österreichischen Mythos, von den Habsburgern als "Synonym für die gute alte Zeit, die es zwar nie gegeben hat, die wir aber brauchen, weil wir auf etwas stolz sein wollen", bis zu Dollfuß ("Er ist nicht der Heilige oder der Arbeitermörder, sondern sowohl als auch").

Die Gegenwart stets im Auge

Auch mit politischen Stellungnahmen positionierte sich der Zeithistoriker in der Öffentlichkeit – etwa als er sich kritisch zum EU-Beitritt Österreichs äußerte, den er mit einem "Souveränitätsverlust" verband. Auch 2008 trat er als Unterzeichner des "Manifests für ein demokratisches Europa" gegen den EU-Reform-Vertrag in Erscheinung. Anlässlich des Eurofighter-Ausschusses 2007 attestierte Jagschitz, der schon 1995 vor der wachsenden "Partei der Nichtwähler" gewarnt hatte, Österreich einen "bananenrepublikanischen Hauch" und kritisierte die Tendenz der Politik, sich immer mehr in den Dienst weniger Interessengruppen zu stellen.

Eine besondere Rolle spielten für den Wissenschafter auch Visual History und Fotografie: Neben der Bedeutung von Bilddokumenten – er baute etwa das Bildarchiv des Zeitgeschichte-Instituts zu einer der bedeutendsten Bild-Dokumentationen der jüngeren Geschichte Österreichs aus – betonte Jagschitz auch die Wichtigkeit audiovisueller Dokumente, die den Alltag der Bevölkerung festhalten. Als eine der wichtigsten Aufgaben eines Historikers betrachtete Jagschitz schlicht das Zuhören. (APA, red, 1. 8. 2018)