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Batyr hat Heimweh. Auf einem Baumstamm im Schatten sitzend, telefoniert er mit seiner Frau. "Wie geht es zu Hause, was machen die Kinder", fragt er. Seine Frau ist weit weg in Tadschikistan, und Batyr ist bereits seit gut zwei Monaten auf einer Baustelle in Russland, irgendwo 100 Kilometer nordöstlich von Moskau. Sein Arbeitstag beginnt um sieben Uhr morgens und endet manchmal erst um neun Uhr abends, wenn die Sonne untergeht. Zusammen mit seinem Kumpel Bachadyr gräbt er tiefe Löcher in die Erde, um sie später mit Sand und Kies zu füllen und dann Zement daraufzugießen.

Den Job auf der Baustelle hat ihnen Utker verschafft, alle drei kommen aus einem Dorf nahe Pendschikent an der tadschikisch-usbekischen Grenze. Utker, der als Einziger in Russland ein Arbeitspatent und eine Registrierung besitzt, hat die sicherste Position. Er bleibt daher bis zum Jänner in Russland, obwohl seine Frau daheim gerade die dritte Tochter geboren hat. Bachadyr und Batyr sind hingegen nur im Sommer da. Batyr sehnt sich nach seinem Obstgarten, "der gerade blüht". Bachadyr klagt über Ärger mit der russischen Polizei. Weil ihm die Arbeitserlaubnis fehlt, wollten die Polizisten Schmiergeld kassieren, umgerechnet gut 70 Euro. Zu viel für Bachadyr, nun droht ihm ein Ausweisungsverfahren.

100 Dollar als Lehrer

Trotz der Unannehmlichkeiten will und kann keiner der drei auf den Verdienst aus Russland verzichten. Und sie sind kein Einzelfall: Rund 800.000 Tadschiken haben 2017 in Russland gearbeitet, das heißt rund jeder Zehnte im Land. 2,5 Milliarden Dollar haben diese Gastarbeiter in die Heimat überwiesen. Zum Vergleich: Das Bruttosozialprodukt Tadschikistans beläuft sich gerade einmal auf 7,3 Milliarden Dollar. Tadschikistan ist damit das Armenhaus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Batyr verdient als Lehrer umgerechnet rund 100 Dollar im Monat, bei Bachadyr, der daheim als Lkw-Fahrer arbeitet, ist es nicht viel mehr. "Mein Bruder fährt auf eigene Rechnung, hat einen Lkw gepachtet und macht manchmal bis zu 500 Dollar im Monat, das ist in Tadschikistan viel Geld", erzählt er stolz.

Der "Führer der Nation" Emomalij Rahmon legt auf einer Baustelle schon mal selbst Hand an.
Foto: APA/AFP

Die meisten Tadschiken arbeiten aber immer noch in der Landwirtschaft. Das Land ist agrarisch geprägt. Industriell ist die Textilbranche von Bedeutung oder der Aluminiumproduzent Talko. Potenzial hat Tadschikistan auch bei der Energiegewinnung. Öl und Gas sind zwar Mangelware, doch dafür erlauben die zahlreichen Gebirgsflüsse die Gewinnung von Wasserkraft. Der Bau neuer Kraftwerke wurde trotz ökologischer Bedenken auch nach dem Zerfall der Sowjetunion fortgesetzt, da das Land unter einem hohen Energiedefizit leidet. "Bis vor zwei Jahren war die Abschaltung von Strom für ein paar Stunden am Tag normal", erzählt Bachadyr.

Sorge vor Dammbruch

Inzwischen ist die Lage besser, allerdings wird der Kraftwerksbau vom Nachbarn Usbekistan argwöhnisch betrachtet. "Viele Menschen in Usbekistan fürchten, dass bei einem Dammbruch eine Katastrophe auf sie zukommt", erzählt Batyr. Größtes Streitthema zwischen den Nachbarn ist der noch zu Sowjetzeiten geplante, aber bis heute nicht fertiggestellte Rogun-Staudamm, der in einem seismisch aktiven Gebiet liegt. Duschanbe braucht die 3.600 Megawatt Stromleistung, um seine Wirtschaft anzukurbeln. In Taschkent hingegen fürchtet man wahlweise die Flutwelle bei einem Erdbeben oder ein weiteres Austrocknen des Flusses Amudarja, der den Aralsee speist.

Der Präsident ist seit 1994 im Amt.
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Wasser ist eines, aber nicht das einzige Problem zwischen den einstigen Bruderstaaten. Das Ende der Sowjetunion hat auch Nationalitäten- und Grenzkonflikte hervorgebracht. Batyr, Bachadyr und Utker sind ethnische Usbeken, leben näher an Samarkand als an der eigenen Hauptstadt Duschanbe, doch nach Usbekistan zu gelangen war jahrelang unmöglich. Es herrschte Visumpflicht. Zu allem Überfluss hatte Usbekistans Langzeitpräsident Islam Karimow die umstrittene Grenzlinie zwischen beiden Staaten auf großen Abschnitten vermint. Karimow ist inzwischen tot, sein Nachfolger Schawkat Mirsijojew setzt auf Entspannung. Für Tadschikistan wäre die Kooperation wichtig.

Der "Führer der Nation"

In Duschanbe allerdings sieht es derzeit noch nicht nach Veränderungen aus. Dort herrscht nach wie vor Emomalij Rahmon. 1992 kam er im Zuge des Bürgerkriegs an die Macht, seit 1994 ist er Präsident, jedwede Opposition hat er seither vernichtet. Inzwischen trägt Rachmon den Titel "Begründer des Friedens und der nationalen Einheit – Führer der Nation". Dieser Titel erlaubt dem 65-Jährigen nach einer Verfassungsänderung zu Jahresbeginn, sich auch 2020 zur Wiederwahl zu stellen.

Die ansonsten vorgeschriebene (von Rahmon ohnehin verletzte) Begrenzung auf zwei Amtszeiten erstreckt sich nun ausdrücklich nicht mehr auf den "Führer der Nation". Ob er tatsächlich antritt, hängt von seiner Gesundheit ab. Ansonsten steht mit Sohn Rustam der Nachfolger schon bereit. Der 31-Jährige wurde gründlich auf die Thronfolge vorbereitet, durfte sich als Zollchef und oberster Korruptionsjäger versuchen und ist inzwischen Bürgermeister von Duschanbe.

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Sohn und Kronprinz Rustam Emomalij hat als Fußballer Karriere gemacht und ist neben seinem Amt als Bürgermeister von Duschanbe auch Präsident des Tadschikischen Fußballverbands.
Foto: Reuters/Kalandarov

"Rahmons Familie hat schon alles"

Die Tadschiken erwarten wenig Veränderungen, selbst wenn der Sohn das Zepter übernehmen sollte. Es werde alles beim Alten bleiben, vermutet Batyr, der es mit Gleichmut nimmt: "Wenn ein Neuer käme, würde er erst einmal für seine Familie alles zusammenraffen, Rahmons Familie hat hingegen schon alles", sagte er. Diese Haltung, durchaus verbreitet in patriarchalischen Gesellschaften, ist für die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung Tadschikistans kontraproduktiv. Sie verhindert politische Konkurrenz. Die Konflikte im Land werden aber in den nächsten Jahren nur zunehmen. Die Bevölkerung wächst, Arbeit und Einkommen kann das Regime mit seiner korrupten und ineffizienten Herrschaft nicht gewährleisten. Als Ausweg bleibt den Tadschiken nur Flucht ins Ausland, oder – gefährlicher – in den Islamismus, der in den vergangenen Jahren deutlich stärker geworden ist. (André Ballin, 2.8.2018)