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Das proeuropäische Lager in Großbritannien ist angesichts der Regierung verzweifelt.

Foto: REUTERS/Hannah McKay

Die britische Premierministerin Theresa May hat es schwer. Sie will einen freien Waren- und Kapitalverkehr mit der EU, nachdem Großbritannien die EU verlassen hat, aber der Personen- und der Dienstleistungsverkehr sollen eingeschränkt sein. Sie will sich nicht der Jurisdiktionsgewalt des Europäischen Gerichtshofes unterwerfen, obwohl die gewünschten Regelungen EU-Recht und die EU-Mitgliedstaaten unmittelbar betreffen. Sie will auch nicht weiter ins EU-Budget einzahlen, obwohl sie von zwei (nicht vier, besonders der Mensch ist unerwünscht) EU-Freiheiten profitieren will. Und vor allem will sie keine Zollunion mit der EU, aber gleichzeitig will sie keine EU-Außengrenze zwischen Nordirland und Irland. All das sei Ausdruck des "Willens des Volkes", wobei hier anscheinend das englische Volk gemeint ist (minus der 46,6 Prozent, die gegen den Brexit gestimmt haben), nicht das schottische oder irische, wie in den alten Zeiten des British Empire.

Es mag dahingestellt bleiben, ob die Pro-Brexit-Minister, die Mays Kabinett Anfang Juli verließen, gemerkt haben, dass der Plan der britischen Regierung genauso paradox und unlösbar ist wie der englische Spruch "To have the cake and eat it", der das geheime Motto der Brexit-Verhandlungen sein dürfte, oder ob sie einfach erkannt haben, dass das Hasardspiel der Brexiteers böse Folgen für die Wirtschaft und den politischen Frieden des Landes haben wird, und sie sich daher durch Flucht der Verantwortung entziehen wollen.

Was sich in den letzten Tagen im britischen Parlament abgespielt hat, ist einzigartig und nicht ohne Komik. Aber das ist nur der verzweifelte Versuch der intern völlig zerstrittenen Parteien, einen Konsens über die britische Verhandlungsposition zusammenzubringen, wobei bis jetzt keiner dieser mühsam erreichten Kompromisse für die EU akzeptabel sein kann, will sie nicht das Grundkonzept der EU direkt torpedieren. Entweder man ist in der EU (oder im EWR) oder Drittstaat, dann aber gelten EU-Regeln nicht.

No-Deal-Situation

Daher sollte sich die EU auf eine No-Deal-Situation als durchaus realistisches Szenario einrichten. Sie wird ohnehin von der britischen Regierung beschuldigt werden, dass sie "unflexibel" war und die Verhandlungen platzen ließ, also sollte sie das Beste daraus machen. Denn für Großbritannien ist ein No-Deal-Brexit katastrophal, für die EU nicht oder nicht mehr.

Es ist offensichtlich, wenn man einmal die Politik mit dem Recht und der Logik vertauscht, dass unter den von Großbritannien gewünschten Bedingungen eine EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland unvermeidlich ist. Das wird den Frieden in Nordirland massiv gefährden, denn die Friedensvereinbarung des Good Friday Agreement war nur möglich, weil Irland und Großbritannien in der EU waren. EU-Subventionen spielen für diesen Friedensprozess immer noch eine wichtige Rolle. Der ehemalige irische Botschafter in London, der im Februar in Cardiff einen Vortrag hielt, sprach die Möglichkeit von Unruhen in Nordirland explizit an. Will die EU zu eng mit einem Unruhegebiet oder möglichen Bürgerkriegsgebiet assoziiert sein? Ein Bürgerkrieg ist nicht einmal in Schottland ganz ausgeschlossen, falls sich das Land wirklich abspaltet. Die EU wird vielleicht einmal froh sein, dass die Britischen Inseln Inseln sind.

Freier Warenverkehr mit Großbritannien mag ja attraktiv sein, aber Großbritannien hat nur eine kleine Manufakturindustrie. Die britische Wirtschaft besteht hauptsächlich aus Dienstleistungen, besonders im Finanzsektor, der auf Computern basiert und innerhalb von Wochen nach Frankfurt, Paris oder Hongkong umziehen kann, anders als Fabriken. Davon kann die EU sehr wohl profitieren. Und Verluste im Manufakturbereich treffen bestimmte Unternehmen in der EU, aber die Gesamtwirtschaft von 27 EU-Staaten kann das viel leichter tragen als Großbritannien allein. Die EU kann jetzt auf Zeit setzen, bis sich die europäischen Unternehmen auf die neue Situation eingestellt haben, was sie sowieso tun sollten. Der Handel mit Asien ist auch oft unberechenbar, und doch findet er statt.

Mit dem Rücken zur Wand

Außerdem hat die EU einen offensichtlichen Vorteil, den Großbritannien dauerhaft verlieren wird. Den machte Donald Trump anlässlich seines Staatsbesuchs in London im Juli in seiner glücklicherweise unnachahmlichen Art klar, als er sagte, dass die USA bei Mays Brexit-Strategie viel eher an einem Handelsabkommen mit der EU (mit 447 Mio. Einwohnern) als an Großbritannien (66 Mio.) interessiert sind. Solche zukünftigen Vereinbarungen mit der EU werden den Ausfall durch Brexit teilweise bald kompensieren können. Dass Theresa May dennoch von einer "special relationship" mit den USA säuselte, während ihr Trump diplomatisch in den Bauch trat, lässt erkennen, dass Großbritannien wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand steht, wenn es mit der EU verhandelt.

Und dann sollte der eigentliche Grund nicht vergessen werden, der zum Brexit geführt hat: Das ist nicht so sehr die byzantinische Bürokratie in Brüssel, sondern der rechtspopulistische Hass gegen echte oder angebliche Ausländer, zuerst besonders gegen Europäer, aber auch gegen Schwarze, die schon seit 50 Jahren in Großbritannien leben, nachdem sie von den Briten eingeladen wurden, aus der Karibik einzuwandern und jetzt von der konservativen Regierung für illegal erklärt werden, wie der Windrush-Skandal kürzlich gezeigt hat. Die größte Oppositionspartei, Labour unter der Führung von Jeremy Corbyn, letztlich ebenfalls für den Brexit, schlittert dafür in ein Antisemitismusproblem nach dem anderen. Will die EU wirklich eine enge Assoziation mit einem Land, das die Idee der EU ablehnt, nationalistischen Rechtspopulismus als Teil ihrer Regierungspolitik sieht und damit (Noch-)EU-Staaten wie Polen und Ungarn den Rücken stärkt?

Es könnte sein, dass die EU einmal erleichtert über den Brexit sein wird. Ich argumentiere hier gegen meine Interessen als Europäer, der über zwanzig Jahre in Großbritannien lebt. Aber wahrheitsgemäße Analysen sind wichtiger als Interessen. (Andreas Rahmatian, 2.8.2018)