Der erste Gast ist Österreichs Kanzler auch acht Monate später immer noch der liebste: Mark Rutte mit Sebastian Kurz auf dem Weg zum Neujahrskonzert.

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Fünf Tage war Sebastian Kurz als Bundeskanzler im Amt, da empfing er seinen ersten Gast aus dem Ausland: Am 1. Jänner kam der niederländische Premier Mark Rutte nach Wien angereist, besuchte zusammen mit dem frisch angelobten Bundeskanzler das Neujahrskonzert und zog sich im Anschluss daran mit diesem zu einem Arbeitsgespräch zurück. Zwar war es der allererste Besuch, doch verglichen mit der zwei Wochen später stattfindenden Visite des ungarischen Ministerpräsidenten fiel dieser Termin beinahe unter den Tisch.

Als sich nämlich Viktor Orbán neben den österreichischen Kanzler stellte, von gemeinsamen Interessen und kompatiblen Weltsichten sprach, fielen Aufmerksamkeit und Aufregung ungemein größer aus. Schließlich sahen sich damit all jene bestätigt, die von der ÖVP-FPÖ-Regierung eine Annäherung an den renitenten und autoritären Regierungschef in Budapest erwartet hatten.

Dabei hätte ein genauerer Blick auf das Treffen im Musikverein zwei Wochen zuvor schon durchaus Aufschluss darüber geben können, in welche Richtung sich Österreichs neuer Kanzler orientieren würde. Ginge es nach Kurz, dann fiele der eigene Name ohnehin seltener in einem Atemzug mit dem Orbáns und würde öfter mit jenem Ruttes in Verbindung gebracht.

Kaum ein Interview oder Gespräch, in dem der Österreicher nicht lobende Worte für den Niederländer findet. Zum rechten Außenseiter Orbán mag Kurz "Brücken bauen", den prominenten Liberal-Konservativen Rutte hingegen feiert er als "stärksten Verbündeten für das, wo wir hinwollen".

Was aber verbindet die beiden? Eine Annäherung in fünf Punkten.

Migration

Da wäre zunächst einmal Kurz' Leibthema: Fragen der Migration und Integration hat auch Rutte weit oben auf seine Agenda gesetzt. Dass sich die EU-Staats- und Regierungschefs vor kurzem auf dem EU-Gipfel zwar auf Aufnahmezentren für Flüchtlinge und Migranten in Nordafrika einigen konnten, aber nicht darauf, ob dort schon Asylanträge gestellt werden dürfen, ging auf das Duo Rutte/Kurz zurück.

Österreich und die Niederlande sollen sich so lange gegen eine Überprüfung des Flüchtlingsstatus in Nordafrika gesperrt haben, dass die Details dazu im Gipfel-Schlussdokument offenblieben. Die beiden Regierungschefs ziehen es vor, dass die Menschen aus den Lagern heraus in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden und erst dort Asyl beantragen dürfen.

Kurz und Rutte hatten zuvor schon die grundsätzliche (besonders stark von Deutschland kritisierte) Idee vorangetrieben, Migranten in Auffanglagern außerhalb der EU unterzubringen. 2016 war Rutte zudem neben der deutschen Kanzlerin federführend an der Ausarbeitung des Flüchtlingsabkommens der EU mit der Türkei beteiligt.

Gegenüber Migranten und Flüchtlingen, die bereits in den Niederlanden leben, hat der Premier den Ton im jüngsten Wahlkampf im März 2017 verschärft. Per Brief teilte er ihnen mit, dass sie sich entweder zu den liberalen Freiheiten und der Verfassung ihrer neuen Heimat zu bekennen oder diese zu verlassen hätten.

EU-Vision

Seine erste große Europa-Rede hielt Rutte im vergangenen März, nach sieben Jahren im Amt, und zwar in Berlin, was kein Zufall war. Die Niederländer wollen nach dem EU-Austritt der Briten, ihrer engen Verbündeten, zweierlei verhindern. Zum einen eine Mehrbelastung für die Nettozahler, also jene Länder, die mehr in den Haushalt einzahlen, als sie herausbekommen.

Das trifft neben den Niederlanden auch auf Österreich zu, weshalb auch Wien dafür eintritt. Zudem ist man gemeinsam dagegen, dass die Kompetenzen der EU weiter ausgebaut werden, wie es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorschwebt. Deutschland hingegen ist erstens bereit, mehr Geld nach Brüssel zu schicken, und will zweitens Macron bei seinen Plänen für eine stärkere EU zumindest teilweise entgegenkommen.

Rutte schwebt eine schlankere, effizientere, stärker regelbasierte und insgesamt "perfektere, keine engere Union" vor. Damit hat sich der Niederländer als wichtigster Wortführer der kleineren nördlichen und nordwestlichen Mitgliedstaaten etabliert, die wohlhabend, milde euroskeptisch, aber dennoch auf die EU angewiesen sind.

Auch Österreich weiß Rutte hier auf seiner Seite: Die Neuregelung der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der Subsidiarität hat Kurz zu einem Schwerpunkt der österreichischen Ratspräsidentschaft erklärt.

Netzwerke

Für private Beziehungen hat Rutte, der allein lebt, eigenen Angaben zufolge keine Zeit. Umso intensiver pflegt er seine professionellen Beziehungen. Wie Sebastian Kurz überlässt auch Mark Rutte hier nichts dem Zufall. Auf der Suche nach Partnern und Bündnissen hat er sich zu Hause ebenso als talentierter Netzwerker erwiesen wie im Ausland.

Mit 17 Millionen Einwohnern zählen die Niederlande nicht zu den großen EU-Mitgliedsländern. Dennoch gilt Rutte als politisches Schwergewicht, weil er eine Reihe weiterer Staaten um sich geschart hat. Die Beziehungen, die die Niederlande unter seiner Führung zu Finnland, Schweden, Dänemark, Irland, Litauen, Lettland und Estland aufgebaut haben, sind so gut, dass Rutte oftmals auch gleich in ihrem Namen spricht.

Pragmatismus

Rutte gilt zwar als umgänglich und warmherzig, aber auch als äußerst hart in der Sache. Auf der Suche nach Verbündeten hat der 51-Jährige mitunter so viel Experimentierfreude an den Tag gelegt, dass ihn die einen für einen vernunftgetriebenen Pragmatiker, die anderen für einen Mann ohne Prinzipien halten – Beschreibungen, die auch Kurz nicht fremd sind.

Ruttes erste Minderheitsregierung entstand mithilfe der Unterstützung des Rechtspopulisten Geert Wilders, die zweite Koalition bildete der Liberal-Konservative mit den Sozialdemokraten, und die aktuelle zimmerte er nach mühseligen Verhandlungen aus gleich vier höchst unterschiedlichen und nur schwer kompatiblen Parteien zusammen.

Dass Rutte bei den Wahlen im März 2017 nach einem prognostizierten Kopf-an-Kopf-Rennen mit Wilders diesen mit komfortablem Vorsprung hinter sich gelassen hat, zog die Aufmerksamkeit vieler auf ihn.

Der Ausgang der Wahl hatte als Gradmesser für die Stärke von Rechtspopulisten in Europa gegolten – und Ruttes Strategie, Wilders nicht die Themenherrschaft zu überlassen, als mögliches Erfolgsrezept. Auch hier findet sich eine Parallele zu Kurz: Auch bei ihm scheiden sich die Geister, ob er die FPÖ durch die Übernahme ihrer Themen kleiner gehalten oder größer gemacht hat.

Image

Den bescheidenen Lebensstil, den Sebastian Kurz zelebriert, lebt auch Mark Rutte vor. Rutte fährt mit dem Fahrrad zu Terminen mit dem König, telefoniert mit einem alten Handy, bewohnt eine kleine Wohnung in Den Haag und unterrichtet jeden Donnerstagmorgen ehrenamtlich an einer Hauptschule. Als Rutte einmal im Parlament einen Kaffee ausgeschüttet und diesen eigenhändig mit einem Wischmopp aufgewischt hat, ging das Video davon selbst in den USA und in Indien viral.

Acht Jahre ist er bereits an der Macht, und noch immer hat das sorgsam gepflegte, weitgehend makellose Image – auch hier eine Parallele zu Kurz – kaum Risse abbekommen. Von seinem Privatleben dringt kaum etwas nach außen. Rutte ist das jüngste Kind einer protestantischen Familie. Einer der sechs Brüder starb in den 1980er-Jahren an Aids, was seine Sicht auf das Leben prägte. Sein "großer Tatendrang" rühre daher, erklärte Rutte einmal in einem Interview.

Rasant verlief auch seine Karriere: Für seine Partei VVD engagierte er sich bereits früh, 2002 wurde er Staatssekretär, vier Jahre später führte er die Partei und weitere vier Jahre später das Land an. Seit langem wird Rutte als Topfavorit für die Nachfolge von EU-Ratspräsident Donald Tusk gehandelt. Darauf hofft auch Sebastian Kurz. (Anna Giulia Fink, 6.8.2018)