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Eine Ikone ihrer selbst: Madonna (hier bei der Met-Gala im Frühjahr 2018) wurde am 16. August 1958 in Bay City, Michigan, als Madonna Louise Ciccone geboren und feiert heuer ihren 60. Geburtstag. Sie ist mit einem geschätzten Vermögen von über einer Milliarde US-Dollar die reichste Person im Musikgeschäft.

Foto: Evan Agostini/Invision/AP

Madonna ist sechzig Jahre alt, das ist alt, aber auch nicht wirklich alt. Irgendwas zwischen jung und tot. Ihre gleichaltrigen Kollegen Prince und Michael Jackson sind inzwischen tot. Sind die beiden jung oder alt gestorben? Kann man Madonna nach all den Jahren, in denen sie immer irgendwie da war, weil sie nie weg war, nicht mögen, wenn ignorieren schon nicht mehr geht? Wie viele Madonnas gibt es denn überhaupt? Ist das vielleicht eine subliminale Taktik, alles voller metaphysischer Madonnamöbel zu stellen, dass man sie einfach nicht nicht sehen kann? Welche Madonna ist die richtige Madonna? Wann ist sich Madonna in all den Jahren selbst am nächsten und wann abhandengekommen? Wer hat Madonna erfunden? Sie selbst? Und wenn, woraus?

madonna

Wenn man frühe Aktbilder von ihr im Internet findet, sieht man ein 18-jähriges Mädchen mit wucherndem Scham- und Achselhaarbewuchs, aus der gleichen Zeit aber, vermutlich vom selben Fotografen, eine ähnliche Serie ohne Achselhaare, so als sei die eine Serie für eine Fetischklientel gemacht, die andere, handelsübliche, wenig explizite, für den "Normalverbraucher", hat sie das damals selbst schon kontrolliert? Wie stark war ihre Vision, hatte sie eine Strategie, was hat sie dafür alles gemacht, auf sich genommen, welche Kompromisse musste sie machen, um selbstbestimmt zu sein, war sie denn je selbstbestimmt, oder war immer nur alles ein bipolares Ausprobieren der Möglichkeiten unter Zuhilfenahme von Fotografen, Produzenten, Komponisten, Modemachern, Imagebäckern?

Künstliche Bubblegumphase

War das augenscheinlich Selbstbestimmte bei ihr nicht auch nur das Kalkül eines ständig wechselnden Etiketts, das man abtrennen und wieder an ein neues Textil nähen konnte, unter dem Madonna immer mehr verschwand? Aber sie verschwand ja, wie man weiß, nicht. Prince und Michael Jackson haben sich irgendwo verloren, bevor sie endgültig verschwunden sind und heilig werden konnten. Madonna war nie heilig. Sie war zu sehr da. Ist sie Hülle oder Inhalt? Und wenn beides, wie sind beide Komponenten prozentual aufgeteilt?

madonna

Die künstliche Bubblegumphase (Holiday) brauchte sie am Anfang (1983), um sich zu definieren, zu einer Zeit, als der Pophedonismus schon ziemlich ausgereizt war, Holiday und der Nachfolgehit Lucky Star war ein von einer Proto-Gothic Lolita distanziertes posthedonistisches Statement, das ihr ihr damaliger Lover John "Jellybean" Benitez auf den Leib produzierte, La Isla Bonita und Papa don't preach, das sind schon mehr oder weniger melancholische Spät-Abba-Anklänge, Vogue, auch damit war sie zu spät, Malcom McLaren hatte den starren Ausdruckstanz Vogue als Erster einer schwulen Subkultur weggenommen, sie war also Nutznießerin eines flinken Parasiten. Also alles in der Frühphase war musikalisch irrelevant und zu spät, dennoch war da etwas. Was? Das Charisma einer Suchenden, die aus ihrer Suche und dem unbedingten Wunsch, ein Star zu werden, kein Hehl macht?

Post-Disco, Post-Alles

Dass wir mit ihr suchten, dass sie uns teilhaben ließ an der Suche nach sich selbst, sie ihre Karten auf den Tisch legte, sich buchstäblich auszog? Natürlich sagte sie nicht, musste es auch gar nicht, dass ihre Appropriation des postfaktischen Aspekts bei Abba nur ein Umweg ist, um zur dunklen, mächtigen Discoübermutter Donna Summer (Bad Girls) vorzudringen, mit dem Wunsch, sie zu beerben, vor der die Männer Angst hatten, sie biss ihnen den Kopf ab, nachdem sie nicht enden wollende Orgasmen abstaubte, Donna Summer hinterließ Blut auf dem Tanzboden, nur Madonna (allein die Namensähnlichkeit) war Post-Disco, Post-Alles und kam, als die neue Disco bereits voll war, mit Shannon, Shalamar, Evelyn "Champagne" King, Cheryl Lynn, dem brutalen Hi-NRG-Zeug, fischigem Italo-House, Electro usw., sie konnte und wollte nicht mit denen gehen, weil deren Protagonistinnen viel stärker (Chaka Khan) waren als sie, sie wollte nur einmal probieren, und dann gleich weiter zur mediokren La Isla Bonita segeln, eine Relevanz aus sich selbst generieren.

Warner Bros. Records

Und dann wurde alles ausprobiert, und bei allem, was sie machte, war immer diese Rückversicherung, dass, wenn man fällt, man immer noch zurückkann, der Backkatalog war ja voll genug, sie war ja da, und die Persistenz ihrer Anwesenheit wurde immer fundamentaler, und die Etiketten wechselten schneller das Textil, als sie es ausziehen konnte, und ihre Kunst war, dass sie trotz ihrer langen Karriere nicht nervte, dass sie ihr Suchen nach dem, wer sie ist und wohin sie eigentlich will, geschickt, spannend und unlangweilig machte, sie wurde zum Haushaltsgegenstand, vom privaten Zeug, von Sean Penn, Evita, Sex, Diastema, Warhol, Gaultier, Lourdes wollen wir erst gar nicht reden.

Intergalaktische Ode

Und dann kam vor 13 Jahren Hung Up, der Überhit. Sozusagen die Konklusion, ja die Klimax all dessen, was sie bisher so geschaffen hat, die perfekteste Kulmination der verschiedenen Schichten Madonnas, mit dem Lied machte sie sich endgültig zur Ikone ihrer selbst.

Warner Bros. Records

Das markante Abba-Sample von Gimme Gimme Gimme (A Man After Midnight), mit dem Ticken einer Uhr kombiniert, macht daraus eine intergalaktische Ode an das Warten, das nur vordergründig Reine, Helle, Grazile bei Abba wird im Madonnakontext umso hohler, weil bisher niemandem die dreckige, fordernde, brutale Seite von Abba aufgefallen war, und auch wenn die von Agnetha und Frida gesungene Zeile "Won't somebody help me chase the shadows away" nicht vorkommt, lasten die Schatten der Einsamkeit auf dem scheinbaren Hedonismus bei Madonna, denn auch sie wartet auf einen erlösenden Anruf, aber der kommt nicht. Und dann verschwinden einzelne Elemente (Filterhouse nennt sich diese Methode), um später zunächst dumpf und dann immer präziser und härter wieder aufzutauchen. Erlöst wird niemand, ein Ende ist nicht in Sicht, das ist wohl Madonnas Motor. Viel mehr kann man von ihr jetzt auch nicht mehr erwarten, und das ist schon mehr als genug. (Tex Rubinowitz, 6.8.2018)