Das Leben in Rumänien ist voll unerlösten Schreckens.

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Varujan Vosganian, "Als die Welt ganz war". Erzählungen. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. € 24,70 / 335 Seiten. Zsolnay-Verlag, Wien 2018

Foto: Zsolnay

Auch anderswo wird die Vergangenheit nicht aufgearbeitet. Sie wird vielmehr liegen gelassen im Geröll der Zeit. In Rumänien ist es die Schreckensherrschaft des Ceausescu-Regimes, aber auch die Umbruchzeit danach, mitsamt dem Terror des noch immer nicht gänzlich eliminierten Geheimdiensts Securitate.

Varujan Vosganian, der rumänische Autor mit armenischen Wurzeln, nimmt manche dieser Steine auf und schlägt aus ihnen phosphoreszierende Funken. Seine Erzählkunst ist magisch, sie bedient sich ausgiebig der Verfremdung.

In Jakob, Sohn des Zevedei beschwört er die Vielfalt von bedrohlichen Geräuschen, die den Gefangenen in einer Securitate-Zelle mit ebensolcher Vielfalt von Angst und Schrecken heimsuchten: von dem herannahenden Schlurfen der Wärterschritte über das Klappern der Schlüssel und Knallen der Zellentüren bis zur ohrenbetäubenden Stille, wenn die Folterer abrückten: "Das Gehör war ein Sinnesorgan, das uns in keiner Weise mehr beschützen konnte, es war vielmehr, als gehörte es nicht mehr zu uns, ein Terrorinstrument geworden, über das sie verfügten. Es reichte ihnen nicht, uns zu terrorisieren, sie marterten uns mithilfe einiger von uns. Sie quälten uns mit Teilen unseres Körpers, die andere Teile des gleichen Körpers quälten."

Narben heilen nicht

In einer langen Erinnerungssuada eines Folteropfers, die wie eine satanische Litanei anmutet, werden die entwürdigenden Verhörmethoden und psychischen Marterqualen der übelsten Schergen des Regimes angeprangert. Das Schreckliche dabei: Diese Narben heilen oft auch nach Jahrzehnten nicht. Die Täter indes bleiben unversehrt.

Eines der Opfer beschreibt im Selbstgespräch die toxische Macht dieser Heimsuchungen: "Es wird dir nicht gelingen, dich von deinen Ängsten zu heilen, wenn du meinst, unter den Menschen lebend und in ihr Gewusel eingemengt, könnte dich die Furcht nicht mehr erreichen. Da gehst du fehl, denn tatsächlich suchen nicht die Ängste dich, sondern du bist es, der sie, ohne es zu merken, sucht. Also versteckst du dich umsonst, sie werden dich nicht suchen, aber du wirst sie schließlich finden."

Das gleiche alte Heu

Spürbar liegt Gewalt in der Luft. "Das Schicksal ernährt sich von rohem Fleisch", warnt ein eingeweihter Arzt, der vergeblich versucht, dem Fatum mit Ritualen des Aberglaubens beizukommen. In der Titelerzählung Als die Welt ganz war versucht der ohne Arme und Beine aufgewachsene Junge Cotuc, von seiner Schwester liebevoll umsorgt, in Büchern das Ideal eines ganzheitlichen Lebens wiederzufinden. Doch der Traum, der bestenfalls noch in der Kindheit Geltung hatte, erweist sich als Trugbild. Stattdessen vergönnt das Schicksal in Gestalt eines mörderischen Rohlings dem verkrüppelten Cotuc nicht einmal ein Stückchen versehrten Lebensglücks.

In Ein Bund Liebstöckl fährt ein Mann aus dem weit entlegenen Schiltal in die Hauptstadt, um nach zwei Jahrzehnten eine Frau zu treffen, die er einst, im Juni 1990, bei einem Überfall der Bergarbeiter auf die zivile Stadtbevölkerung Bukarests grausam niedergeknüppelt hatte. Diese "Mineriaden" hatten konterrevolutionäre Ziele. Als Auftragsschläger wurden sie in der Regierungszeit Ion Illiescus von Gewerkschaftern auf oppositionelle Demonstranten gehetzt. Zumindest ist dies die gängige zeitgeschichtliche Darstellung. Nun ist der Bergarbeiter alt, ausgebrannt und lungenkrank, und sein einstiges Opfer Rada, die damals durch die Schläge ihr Kind verlor, ist eine einsame Frau, die mit ihrem Schicksal hadert. "Wir haben nicht die gleichen Erinnerungen", sagt sie zu ihrem Peiniger.

Rache, Vergebung, Vergessen – vor diesem Dilemma der Entscheidung steht die rumänische Gesellschaft nach dem Fall des Kommunismus. Varujan Vosganian, der sich als Autor der fulminanten Armeniensaga Buch des Flüsterns international einen Namen gemacht hat, zeigt, dass diese Entscheidung nach wie vor aussteht.

Das gleiche alte Heu

"Diese Revolution hat nur das Heu gewendet, damit es nicht verfault. Es ist aber immer noch das gleiche alte Heu." Das sagt die alte Mutter in der letzten Erzählung zu ihrem Sohn Petrache, der als Kustos eines Museums starre Statuen bewacht, die nachts plötzlich lebendig erscheinen.

Erkennbar wird in allen Geschichten die Neigung zur wechselweisen Abgrenzung innerhalb der rumänischen Gesellschaft. Vorherrschend bleibt das Misstrauen gegenüber dem Logos, gegenüber jeglicher Kraft zum Meinungs- und Erfahrungsaustausch. Ein traumatisiertes Volk, so scheint es, steht sich selbst im Weg.

Vosganian erzählt nicht stringent, sondern sprunghaft assoziativ, mäandernd, in dunklen, oft verschlüsselten Metaphern. Rumänischer Surrealismus steht Pate. Das erleichtert das Lesen nicht eben. Zumindest der ersten der Erzählungen hätte eine Erläuterung des geschichtlichen Hintergrunds gutgetan. Immerhin hinterlässt der Band jene Rätselstimmung, von der die erlebte Geschichte dieser Erzählungen zeugt. Ein Glücksfall ist das bedachtsame und prägnante Deutsch von Ernest Wichners Übersetzung. Es schafft einen Erzählraum, in dem klar wird: Das Leben in Rumänien, wie Vosganian es darstellt, ist voll unerlösten Schreckens. (Oliver vom Hove, 6.8.2018)