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Wann hat das Kontinentalkollektiv der Gastronomen den fatalen Entschluss gefällt, Frühstück nicht mehr zu servieren, sondern Gäste zu Mitarbeitern zu degradieren?

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Die Möven schreien den Morgen an, durch die zona pedonale knattert ein Lastenmoped, Frühstücksgeschirr klappert, Fiocco, der weißgelockte Zwerghund vom Hotel gegenüber, kläfft. Noch schweigen die Menschen.

Das Hotel Adriatico im Strandkurort ist der Mondäne der 50er und 60er verpflichtet, der zweiten großen Zeit adriatischer Konjunktur (die erste fand noch in der Moderne der Monarchie statt). Mit dem federnden Lift geht es hinunter in die Öffentlichkeit eines Hotelmorgens. Jetzt gilt es, Entscheidungen von großer Reichweite zu treffen.

Nehmen wir den Zimmerschlüssel mit an den Tisch, oder lassen wir ihn an der Rezeption? Nehmen wir ihn nicht mit, geraten wir in Gefahr, der observierenden Kraft mit der Morgenliste die Zimmernummer nicht nennen zu können. Dann könnten wir jedermann sein, jedefrau, uns das Frühstück erschleichen. Das wollen wir nicht, wir sind ja zahlende Gäste und elegant und weitgereist und frühmüde, vom Vorabend und seinem Ausklang bestraft und von der fremdelnden Attitüde des Hotelbettes, und deswegen kommt der Schlüssel mit. Er liegt jetzt auf dem freien Tisch, draußen auf der Terrasse, unter der Markise. Er markiert jetzt den Sitzplatz. Das Private. Das allzu Private in einem nichtprivaten Raum. Dem Kampfgebiet.

Zu den logistischen Vorbereitungen der allmorgendlichen Schlacht am Buffet gehört die Wahl der richtigen Zeit. Nie gelingt es, sie ideal zu erwischen, die Bedingungen aber sind bekannt. Frühe Vögel haben alle Vorteile. Später kommende flattern ins Desaster. Erst die ganz späten Vorbeiflieger haben Muße. Ruhe. Wenn auch nur mehr Brosamen und Reste. Kaltes, Altes.

Heute sind wir ein bisschen spät dran, nicht ganz spät, den Beginn des Buffets, seine beste Zeit, haben wir verpasst. Vor uns schon Wankende, Stolpernde, Menschen im Halbschlaf, im Traumtaumel. Einzeln, verwirrt, aber noch nicht zu gefährlichen Trauben gestaut. Die Behänden von ihnen, wir zählen uns dazu, schaffen es, ohne Geklirre einen Teller vom Geschirrturm zu hanteln. Mit dem Teller beginnt alles. Mit dem Teller endet alles. Der Teller ist der Begleiter. Es kann nur ein einziger sein, in der unbeholfenen Hand gehalten, denn die Beholfene muss jetzt arbeiten.

Das Buffet ist ein Gebirge, je nach Lage und gastronomischem Selbstverständnis des ausrichtenden Hotels ein anderes. Manche Buffets sind Hochgebirge, die Rocky Mountains, die Anden, der Himalaya, manche abgetragene Hochflächen, abgerundet und gipfellos, ausgewählte ein einsamer Parnass, ein eitler Olymp oder ein Euganeischer Hügel in einer Ebene aus weißgestärktem Tuch.

Im Nachbarsarg die Salami

Das Frühstücksbuffet im Hotel Adriatico hat alpinen Charakter. In einem eleganten Schwung hat es sich in die Ecke des schattigen Saales gelegt. Den Teller haben wir schon, fällt uns wieder ein, die Vorfreude auf das Kommende, das Abenteuer der Alpenlängsdurchquerung, weicht der Tat.

Noch stauen wir bei den panefizischen Vorbergen. Brot ist unser Einstieg. Panini, Semmelchen, Pane di Pasta Dura, Milchbrot mit Rosinen, Milchbrot vom Stollen mit Zuckerwerk in der Kruste, Zwieback, teutsches Schwarzbrot, Croissants, Kekschen. Ja, Kekschen.

Der Aufstieg beginnt. Es teilen sich die Welten. Im Flachen, anmutig ans Frühstücksgebirge geschmiegt, liegen die Schüsselchen mit den Marmeladen. Tiegelchen mit Erdbeer, Kirsche, Heidelbeer, Marille, Pfirsich. Birne light. Gut gekühlt, in gehackten Gletschern, die Butternuggets, silbrig glänzend, golden, in kaltem Schweiß. Elegante Gedichte auf ihren Umwickelungen künden von Kühen und Almen, preisen die herstellende Molkerei, die Region, die Welt. Auch die Suchtkranken werden hier in den Vorbergen fündig. Das Genannte gibt es stets auch in "bio". Bio-Erdbeer, Bio-Kirsche, Bio-Heidelbeer, Bio-Marille, Bio-Pfirsich. Bio-Birne light. Und auch das Gegenteil von allem Erlaubten fehlt niemals: böses Nutella. Böser Leberaufstrich. Sehr böser Jägeraufstrich.

Oben am Alpenhauptkamm, in Höhen, die nur die Stärksten und Hungrigsten erreichen, liegen die gläsernen Särge mit dem toten Fleisch, die einsamen Gipfel kontinentaler Kulinaristik. In dünnen Scheiben aufgelegt, mit den glitschigen Gabeln nur schwer ohne das Ungemach der Konzentration zu lukrieren: der Regent aller Buffets, König Pressschinken. Zu dick geschnitten, um zu zerreißen, zu dünn, um Geschmack zu enthalten. Im Nachbarsarg liegt die Frühstückssalami, jene Sorte gewürzbefreiter Durchschnittswurst, auf die sich toute l'europe einigt. Die Einigung hat Auswirkungen. Frühstückssalami bleibt die einzige Wurst im Buffetgebirge. Für Verwegene, die es noch nicht bis in den Veganismus geschafft haben, hält das Buffetgebirge eine Alternative bereit. Steifgelegenen Lachs, von fahler Farbe und seifigem Aroma.

Von sehr ähnlichem Geschmack, aber anderer Zusammensetzung ist der einzige Käse im Gipfelreich. Fahlgelb, von der Dicke polnischer Briefmarken. Kein Gouda, kein Edamer, kein Asiago, kein Havarti. Dieser Käse wird nur für Hotels erzeugt. In geheimen Fabriken. Ohne Wissen der EU.

Eine Inselwelt der Getränke

Die Vegetarier sind längst schon abgezweigt. Sie füllen ihre Schüsseln mit Birchers Müsli und anderen Körnermischungen, mit Trockenbeeren und allerlei Flocken und Spänen. Darüber gießen sie saure Milch, Buttermilch, Prozentualmolke, Joghurt, Kefir, Quark in allen Fettstufen.

Wer es bis hierher geschafft hat, wer die Mischung aus Eigeninitiative, Schattengefecht, Drängeln und Bedrängeltwerden ohne Blessuren hinter sich gebracht hat, darf in die Gefilde der Wärme vordringen. Auf einsamer Hochebene dem Toastbrot beim Warmwerden zusehen. An den Steilgebirgen der Hitze Warmgehaltenes laden. Der obligatorische Eierkorb (er birgt den unbebrüteten Nachwuchs von Käfigvögeln) kann drei Aggregatzustände annehmen: glühendheiß, steinkalt und leer.

Das Gesagte gilt für die beiden Stahlbottiche, die unter klappernden Hochdeckeln liegen: Eierspeise, zu schaumigen Wogen gescharrt, daneben kleine glasige Würstchen, graumeliert, mit braunen Rallystreifen, das Gegrilltwordensein nur vorgebend. Und schließlich lauert hier, in versteckter Schlucht, das Kühnste aller Angebote: Frühstücksspeck. Al dente. Seifig, vor jeder Knusprigkeit bewahrt, vom Schwitzen in tropischem Metall leicht gekräuselt, in der Farbe, die englische Touristen in der Sonne annehmen. Rote Bleiche. Fahl.

Wir kehren an den Frühstückstisch zurück, das Ergatterte abzuladen, ja, der Schlüssel liegt noch da. Das Frühstücksgebirge interessiert uns nicht mehr, wir müssen aufwachen, Koffein, Teein, Saccharose fassen. Eine Inselwelt der Getränke gilt es zu besuchen. Flüssiges Weckamin zu tanken. In der Tassenägäis regiert die Maschine. Und dreihundert digital verwaltete Möglichkeiten, Milchpulver, Kaffeepulver und Süßstoff zu mischen.

Wir wählen Milchkaffee, normal gezuckert, mittelstark. Das Ergebnis wird schmecken wie alle anderen 299 Vorwahlmöglichkeiten: nach Hotelkaffee. Etwas weniger süß als Spitalskaffee, etwas weniger salzig als Tankstellenkaffee. Koffeinverweigerer lassen sich lauwarmes Wasser in eine Metallkaraffe ein, um darin eine der vielen Teesäckchensorten zu baden.

Zuckersüchtige indes haben es gut. Sie wählen aus einer Myriade von Möglichkeiten. Anders als bei Wurst und Käse bilden hier die Hotelgastronomen ihre Möglichkeiten auf dem Felde der Phantasie ab: Wir schwelgen, so wir uns das gestatten, in Brikettzucker, Zucker in Säckchen, Hutzuckerbruch, Pilézucker, Würfelzucker, Kandiszucker, Kandiszucker in Großkristallen am Buchenstöckchen, Kristallzucker im hoteleigenen Säckchen, Rohrzucker im Säckchen, Zuckerersatz im Säckchen. Hagelzucker, Kristallzucker, Zuckersand, Zuckergries, Kastorzucker, Puderzucker, Zuckerlompen, Zuckerstreusel und schließlich, im Zuckerverweigerungsfalle: Honig. Wabenhonig, mit dem Honigwabenmesser zu schneiden, Blütenhonig, Waldhonig, Landhonig, Großstadthonig, weißer, gelber, schwarzer Honig, Lavendelhonig, Kastanienhonig, Honig aus Honigtau. Bio-Honig von Bio-Bienen gekeltert.

Technischen Charakter hat auch unser finaler Ausflug, er gilt dem Fruchtsaftautomaten. Der schwitzt kleine Gläser aus Fruchtsaftimitat aus: Apfelsaft, Orangensaft, Grapefruitsaft, Ananassaft, Maracuja-Karotten-Saft. Sie unterscheiden sich nur in der Farbe.

Wann hat das angefangen?

Wann hat das angefangen? Wann hat das Kontinentalkollektiv der Gastronomen den fatalen Entschluss gefällt, Frühstück nicht mehr zu servieren, sondern Gäste zu Mitarbeitern zu degradieren, sie durch Tische stolpern zu lassen, Teller balancieren und Tassen jonglieren zu lassen? Wieso kam das Frühstücksbuffet in die Welt, und warum? "It's the economy, stupid!", sagen die einen, "Guten Morgen, Ihre Zimmernummer", die anderen.

Das Frühstücksbuffet, wie wir es kennen (und alle von uns kennen es!), dient der Völkerverständigung. Das Volk der Müsli-Esser lernt hier Respekt für die Schwarzbrot-Ethnien, die Marmeladeländler Achtung für die Stämme aus den Speck-und-Ei-Nationen. Die Kulturanthropologie versucht sich im Verstehen, das Frühstücksbuffet habe mehr für die Einigung Europas geleistet als gemeinsame Währung, Freizügigkeit und der Schengen-Tango. Das Frühstücksbuffet ist gelebte Toleranz, sein Angebot, die kulinarische Lingua franca eines Kontinents, der sich nicht entscheiden kann zwischen Einheit und Vielfalt, der Gemeinsames ins Trennende stellt und die öde Mischung neben das scheinbar Pure. Warum geht es also beim Frühstücksbuffet? Ums Wählen, das Phantasma der Demokratie. Wer hat's erfunden? Die Schweizer. (Andrea Maria Dusl, 5.8.2018)