Spanien 2018: Sie werden unsere Grenzen übertreten und über unsere Mauern klettern. Sie werden unseren Mist raustragen und uns Wasser servieren ...

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Unsere Nationen beruhen nicht auf bloßen Ideen. Wir alle haben ein Zuhause, in dem wir geboren, einen Ort, an dem unsere Lieben gestorben sind. Wir haben die Felder und Straßenecken, wo wir uns ver- und entliebt, Helden, denen wir nachgeeifert haben, und Gegenspieler, die zu besiegen uns am Ende doch noch gelungen ist. Vor allem aber haben wir unsere Sprachen, die uns geformt haben, die uns die Welt beschreiben, in denen wir unsere Hoffnungen äußern, mit unseren Enttäuschungen ringen, Wörter, die unserem Leben seinen Klang, seine Bedeutung und seinen Trost schenken. Ist es falsch von uns, all das nicht verlieren zu wollen? Es bewahren zu wollen vor der Invasion jener, die – wie wir annehmen oder sogar wissen – ihr eigenes Zuhause, ihre eigenen Felder und Helden und Wörter besitzen und die die unseren unmöglich so würdigen können, wie wir es unweigerlich tun?

Sie sind da, die mannigfaltigen Krisen der Zukunft. Gut möglich, dass Syrien ein Präzedenzfall für vieles ist, was uns bevorsteht: Dürre führt zu wirtschaftlicher Not und unverhältnismäßig starker Binnenwanderung aus den ländlichen in die städtischen Gebiete. Die Bevölkerungsverschiebungen heizen den seit langem schwelenden Verdruss über das politische System weiter an. Spannungen zwischen dem Regime und seinen Menschen erzeugen Widerstand, dann Krieg. Die Infrastruktur bricht zusammen, die Gemeinschaft verliert all jene, die über das nötige Kleingeld verfügen, woanders hinzuziehen, um sich den eigenen Wohlstand oder schier das eigene Überleben zu sichern (oder beides). Es erfolgt also eine Bewegung aus einer Todeszone in eine Zone des Überflusses.

Nur eines der künftigen Probleme

Das Wasser – für manche Kern der Syrien-Krise – ist nur eines der künftigen Probleme. Weltweit steigt der Meeres- und sinkt der Grundwasserspiegel. Dadurch wird sich das Zusammenleben von mehr als eineinhalb Milliarden Menschen in den nächsten dreißig Jahren radikal verändern. Die Physik der Migration hat etwas Unvermeidliches an sich. Die Gezeiten jener, die mit uns unbekannten Silben sprechen, die andere Gesichtszüge und Hautfarben haben als die Erzeuger unserer Nationen – diese Wellen des Unvertrauten sind unbestreitbar unterwegs zu uns. Man kann einen Damm bauen, um den Strom zu kontrollieren, aber den Fluss kann man nicht aufhalten.

Der große amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson hat einmal geschrieben: "Die großen Männer, die großen Nationen waren keine Angeber und Narren, sie haben den Schrecken des Lebens erkannt und sich dafür gerüstet, ihm ins Auge zu sehen." Mögen wir Emerson verzeihen, dass er die großen Frauen außen vor gelassen hat, und dennoch die Warnung vor den Narren in unserer Mitte beherzigen, die nicht gewillt sind, den durchaus realen Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Emerson war auch ein großer Verehrer eines besonders entschlossenen Nichtnarren: Christus selbst. Dass wir noch nicht die Kinder Christi sind, können wir daran erkennen, dass wir noch nicht bereit sind, unser täglich Brot zu teilen, unsere Nächsten zu lieben wie uns selbst oder den Segen der Armut als den größten Dispens anzuerkennen.

Nein, wir lieben uns selbst viel zu sehr. Und wenn wir das jemandem verzeihen wollen, dann uns selbst. Denn die Probleme, die uns bevorstehen und deren Herannahen wir alle spüren, sind nicht allein auf den Unmut von Mutter Natur zurückzuführen.

System, das auf Geld aufbaut

Unvorbereitet auf ihren Segen haben unsere Gemeinschaften unter den schädlichen Seiten der Armut zu leiden. Gewissermaßen werden wir nicht mehr von unseren Vertretern regiert, sondern von einem System, das auf Geld aufbaut, um mehr Geld für sich selbst zu produzieren. Es besteht kaum Zweifel, wie dieses Geld sich unsere Gesellschaft wünscht: Das von den Konzernen gepredigte Streben nach allumfassender Effizienz wird nach einigen Schätzungen bis zu 50 Prozent der Arbeitskräfte in den wirtschaftsstarken Ländern aufgrund von Digitalisierung und Automatisierung entrechten.

Der Gewinn aus dieser Produktivitätssteigerung wird sich in immer höheren Stapeln geliehenen Geldes niederschlagen, sodass jene, die sowieso wenig davon haben, dank immer höherer Zinsen immer weniger davon haben werden. Unsere Gemeinschaften verfallen zusehends der Sucht nach Schulden, die alle arm machen, bis auf ein paar wenige, die sich in der Zentripetallogik des Systems schön mittig positioniert haben.

Für andere mag es so aussehen, als hätten wir hier Zonen des Überflusses, aber uns selbst erscheinen sie auch wie Todeszonen. Kommen werden sie trotzdem, weiterhin. Sie werden unsere Grenzen übertreten und über unsere Mauern klettern. Sie werden unseren Mist raustragen und uns Wasser zum Abendessen servieren und unsere Tische abräumen, wenn wir fertig sind. Ihren Kindern werden sie zärtlich zureden, auf unseren Straßen zu schlafen, wenn es sein muss.

Eigenliebe auf dem Prüfstand

Sie werden dazugehören wollen, wenn auch auf ihre eigene Art, die wir für unzureichend halten. Wir steuern also auf eine Zukunft zu, in der unsere Eigenliebe auf dem Prüfstand steht, eine Zukunft, in der unsere Gemeinschaften anders aussehen und klingen werden als zuvor, und wenn wir nicht aufpassen beim Versuch, diese Veränderungen zu bewältigen, aber auch bei unserem Umgang damit, dass sie uns so wahnsinnig stören, nun, dann kann es leicht sein, dass wir bald selbst in einem unlösbaren Dilemma gefangen sind: Unablässig geplündert und somit immer angreifbarer geworden durch das Kapital kann es sein, dass wir auf diese Veränderungen unseres "sozialen" Klimas mit eigenen existenziellen Dramen reagieren, unseren eigenen schwelenden Groll auf die Politik schüren und selbst in Unruhen und Gewalt aufgehen. Wenn wir nicht aufpassen, kann es passieren, dass unsere Gemeinschaften ebenso verlorengehen wie die Gemeinschaften derjenigen, die zu uns flüchten.

Es ist nichts dadurch gewonnen, dass man bevorstehende Herausforderungen verkennt. Ja, wir fühlen uns ärmer, ja, wir leiden. Ja, die, die kommen, um in unserer Mitte zu leben, nehmen das nicht so wahr. Ja, irgendwie geartete Mauern werden sich wahrscheinlich nicht vermeiden lassen, auch wenn sie sich am Ende als nutzlos erweisen. Aber es gibt keine Alternative zu intelligenter Vorbereitung. Intelligent, das heißt nicht nur nuanciert und maßvoll, sondern auch couragiert und realistisch. Wir müssen mutiger und umsichtiger sein, als das die närrischen Angeber von uns verlangen. Vor allem aber dürfen wir uns nichts vormachen. Wir dürfen uns nicht vormachen, dass wir reicher sind, als wir sind, oder großzügiger oder toleranter.

Nur indem wir uns selbst klarer sehen, lernen wir, die größte Hilfe zu sein, nicht nur für jene, die kommen, um in unserer Mitte zu leben – und deren Kinder früher oder später die unseren heiraten werden -, sondern auch und vor allem: für uns selbst. (Ayad Akhtar, 5.8.2018)