Wer bis zu einem bestimmten Alter nicht lesen kann, wird nicht über Nacht zum Leser.

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Der deutsche Buchmarkt hat laut einer Erhebung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels während der letzten fünf Jahre 6,4 Millionen Leser verloren. Direkt nach Bekanntwerden der Zahlen ging die gewohnte Suche nach einem Schuldigen los – vom Siegeszug der sozialen Medien bis zum immer belangloser werdenden Programm der TV-Sender. Alle diese Faktoren sind natürlich zu beachten, verdecken jedoch gleichsam den Blick auf die schmerzliche Wahrheit. Lesen entspricht einfach nicht dem Zeitgeist.

Die Mühsal des Lesens

Einem Leser wird grundsätzlich mehr abverlangt als Konsumenten anderer künstlerischer Produkte wie Film, Musik oder bildender Kunst. Um ein literarisches Produkt entsprechend konsumieren zu können, muss sich der Konsument erst aktiv jahrelang eine Kulturtechnik aneignen – das sinnerfassende Lesen. Dieser Prozess ist jedoch mühsam und widerspricht im Grunde dem, was unsere Gesellschaft als erstrebenswert erachtet.

Unsere Gesellschaft ist heute geprägt vom Wunsch nach höchstmöglichem Komfort in Kombination mit einem immer weiter um sich greifenden Optimierungswahn. Wir haben selbstfahrende Autos, intelligente Kühlschränke, Sprachsteuerungen für unsere Wohnung, damit wir ja nicht das Sofa verlassen müssen, Mähroboter für den Garten, Saugroboter zum Staubsaugen, Apps, die den Stromverbrauch regeln oder uns einen Sexualpartner suchen, und wem das zu mühsam ist, der kann sich online einen Roboter für Geschlechtsverkehr kaufen. Es ist wahrlich nicht schwer zu erkennen, dass in einem solchen geistigen Umfeld die jahrelange Aneignung einer Fertigkeit zum Zwecke der Konsumation eines literarischen Produkts keinen großen Stellenwert hat.

Die Leichtigkeit des Seins

In einer Zeit, in der wir in zehn einfachen Schritten zum Millionär werden und mit drei simplen Tricks ewiges Glück finden, hat die Vorstellung, dass es manchmal die schwierigen Dinge sind, die sich am Ende lohnen, keinen Platz mehr. Wann habe ich mir das letzte Mal die Zeit genommen, ein gutes Buch zu lesen? Diese Frage sollten wir uns öfter stellen und entsprechend handeln, auch wenn es Überwindung kostet.

Trotzdem können wir uns bei der Betrachtung des Problems einer bildungspolitischen Debatte nicht verschließen. Studien belegen seit Jahren, dass immer weniger Jugendliche sinnerfassend Lesen können. Es ist naheliegend, dass diese Zahlen mit den schwindenden Leserzahlen am deutschen Buchmarkt korrelieren. Wer bis zu einem bestimmten Alter nicht lesen kann, wird nicht über Nacht zum Leser. Gleichzeitig verkommen unsere Bildungseinrichtungen sukzessive zu Ausbildungsstätten, in denen der Lehrplan nur das umfasst, was für die Wirtschaft unbedingt erforderlich ist. Alles andere wird wegoptimiert. Das betrifft Fächer wie Geschichte, Latein und Philosophie genauso wie die Beschäftigung mit Literatur.

Hier müssten Literaturschaffende ansetzen, öffentlich Stellung beziehen, kritisieren und lobbyieren, denn sonst werden sich die augenblicklichen Trends am Buchmarkt fortsetzen: Wir werden weiter mit sinkenden Leserzahlen konfrontiert werden. Vor allem große Verlagshäuser werden darauf weiterhin mit einer Trivialisierung ihres Programms reagieren, um sich ihr Stück vom immer kleiner werdenden Kuchen zu sichern. Kleine Verlage werden aussterben oder sich in Nischen zurückziehen, wo sie Kleinstauflagen für ein "elitäres" Publikum zu hohen Preisen produzieren. Unabhängige Autoren schließlich werden es immer schwerer haben, ihr Zielpublikum zu finden, und werden – wohl letztendlich aufgrund des ökonomischen Drucks – aufgeben.

Die gesellschaftspolitische Dimension dieses Szenarios kann sich jeder mit etwas Phantasie selbst ausmalen. (Dennis Staats, 28.9.2018)