Dass das ein Fehler war, wusste ich schon, bevor es losging. In der U-Bahn. Auf dem Weg nach Hütteldorf. Nur: Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Der Wecker hatte um fünf geläutet. Aber ich hatte ich mich verzettelt: Als ich auf dem Hackinger Steg am Sonntag die Uhr startete, war es Viertel nach sieben.

Früh genug, aber angesichts des Wetterberichts, der Temperaturen der letzten Tage und der zweieinhalb Stunden, die ich auf dem Plan hatte, war klar: Fehler! Ich hätte vor eineinhalb Stunden hier sein sollen. Spätestens.

Nur: Anderswo wäre es jetzt dann wohl auch nicht besser. Also: durchbeißen.

Foto: thomas rottenberg

Sonntage sind Longrun-Tage. Aus naheliegenden Gründen, auch wenn das während Hitzewellen egal ist: Da sollte man … Siehe oben.

Mein Longrun würde diesmal in den Wald gehen. Solo. Hügelig. Gemütlich. Ich bin in den letzten Monaten zu viel auf Asphalt gelaufen. Mit Gründen. Aber trotzdem. Wer in Wien ausschließlich auf brettelebenem Beton rennt, lässt die Hälfte von dem, was geht, aus. Die schönere Hälfte. Die anspruchsvollere. Und die unterschätztere: Nur weil Wien eine Millionenstadt ist, heißt das nicht, dass man hier nicht grandios Trail laufen kann. Nicht hochalpin, eh klar, aber der Wienerwald kann einiges: dass man da ordentlich Höhenmeter machen kann, glauben auch "kernige" Bergler oft erst, wenn sie es erleben.

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Die Strecken sind vielfältig. Einige legendär. Viele nicht ohne. Und eine ist ein Klassiker. Ein Wiener Standard: rund um den Lainzer Tiergarten. Kurz: "RULT". Man kann RULT in beide Richtungen laufen. Einfach so oder als Wettkampf. Als Teil von Wien Rundumadum. Man kann mit mountainbikenden Freunden hervorragend streiten, ob RULT am Rad oder zu Fuß mehr kann. Und ob die Richtung einen Unterschied macht.

Außerdem ist RULT "tricky": Obwohl der Lainzer Tiergarten von einer Mauer umgeben ist und man sich theoretisch also immer nur dieser entlangbewegen müsste, um nicht verloren zu gehen, kann man sich dabei hervorragend verkoffern.

Es gibt Schlüsselstellen, die in zahllosen Routenbeschreibungen und Reportagen alle (meist inklusive Fail-Schilderungen) minutiös beschrieben sind. Trotzdem verrennt sich fast jede und jeder hier einmal satt. Zumindest beim ersten Mal.

Ach ja: Ich bin RULT noch nie gelaufen. Es hat sich einfach nie ergeben.

Foto: thomas rottenberg

Ich wählte die "klassische" Option. Gegen den Uhrzeigersinn. Auch wenn es bei einer Umrundung wurscht sein müsste, beginnt fast jede Beschreibung am Südzipfel des Lainzer Tiergartens, beim Nikolaitor.

Von da geht es Richtung Auhof. Stinklangweilig: links die Mauer, rechts die Westeinfahrt. Ich hab mich, im Auto sitzend, seit jeher gefragt, wieso hier so viele Leute rennen. Heute war ich einer von ihnen – wobei: Das Autobahnding ist kurz. Nicht alle hier rennen die Runde: An der ersten, oft beschriebenen Soll-Falschabbiegestelle kommt man – wenn man tut, was logisch aussieht – angeblich nach Purkersdorf. Oder zum Wienerwaldsee. Oder nach Grönland. Wurscht. Ich nahm nicht die logische, sondern die richtige Abzweigung. Nicht, weil ich mittlerweile gelernt hätte, mich zu orientieren, sondern weil ich schummelte. Dazu später.

Foto: thomas rottenberg

Es ging bergauf. Sanft. Zuerst durch ein Wäldchen, dann auf einer Forstautobahn. Vor mir ein Radfahrer. In der Ebene hatte er mich zuvor überholt. Auf der Steigung kämpfte er. Ich holte ihn ein – und wir plauderten: Erich ist 75 Jahre alt. Fit wie ein Turnschuh: Mit 75 will ich auch so beieinand' sein. "Man darf halt nie aufhören. Nie klein beigeben. Nie sagen: Diese Saison mache ich Pause. Dann ist es vorbei." Mittlerweile ist er der letzte seiner Partie, der regelmäßig in die Hügel fährt: Irgendwann lasse die Energie nach.

Auch seine. Ich erzählte von E-Mountainbikes. Davon, dass Werkzeug wertfrei Werkzeug sei und es darauf ankäme, wie man es einsetzt. Und von meinem Tiroler Bergführerkumpel, der bärenstark und superfit ist, aber mit dem E-MTB weiter und steiler unterwegs ist. Erich verstand, was ich meinte. "Ich schau mir so was einmal an." Es wurde flacher, und weg war er.

Foto: thomas rottenberg

Einer der Tricks beim Umrunden des Tiergartens ist, dass man unter der Westautobahn durchmuss, obwohl das unlogisch wirkt. Nach ein paar Kilometern auf der "falschen" Seite geht es dann über eine Brücke zurück auf die "richtige" Seite und dann hinauf zum Dreihufeisenberg.

Das liest sich schlüssig und wie eine Binsenweisheit. Es ist sogar so markiert. Aber ganz ohne Grund reiten die Routenerzähler auf diesem Detail nicht herum: Denn vor Ort entscheiden viele Leute intuitiv – und falsch.

Foto: thomas rottenberg

Der Weg zu den drei Hufeisen ist stellenweise steil. Zum Teil richtig. Schon wenn der Boden knochentrocken und bockhart ist, ist es da nicht unbedingt easy, einen Rhythmus zu finden und zu halten. Noch dazu, wenn der Weg ziemlich ausgefahren ist: RULT ist eine beliebte – legale – Mountainbikestrecke.

Ich war froh über meine Ausrüstung: Natürlich kann man so was auch mit Tempoflats machen, aber ein leichter Trailschuh hält dann halt doch besser. Natürlich kann man ohne Flasks (diese weichen Dinger, in denen das Wasser auch nicht schwabbelt, wenn sie halbleer sind, heißen halt so) losrennen und hoffen, dass jeder Brunnen an der Strecke (meist hinter den Toren im Tiergarten) tatsächlich läuft. Oder die Tore offen sind. Aber, hej, es ist Hochsommer. Hitzewelle. Und wenn ich im Wald umknöchle und im Worst Case eine Böschung runterkugle, sind Handy, Trillerpfeife, ein trockenes Wechselshirt, Notfallplane und Schokolade alles andere als überflüssig. Also: Rucksack.

Foto: thomas rottenberg

Und dann wäre da die Uhr. Die war diesmal mein "Schummelzettel". Normalerweise, auf Asphalt oder Strecken, die ich auswendig kann, drücke ich beim Losrennen auf "Start" und am Schluss auf "Stopp". Fotostopps und dergleichen nehme ich mit: Es geht ja um nix. Dafür würde das billigste Modell (jedes Herstellers) genügen. Nur: Die teureren Uhren (ebenfalls aller Hersteller) können halt weit mehr. Routen anzeigen etwa: Bisher habe ich diese Funktion beim Tri-Trainingscamp in Cesenatico nur beim Rad fahren verwendet. Und da meist auf die größeren Bike-Computer meiner Freunde geschaut.

Aber heute, beim Laufen im Wald, lernte ich meine 935er (die große, fette, neue 5X Plus hab ich dann doch nicht gekauft: Sie ist zwar super, aber mir derzeit zu teuer) wieder ein bisserl mehr lieben: Den RULT-GPS-Track hatte ich in der U-Bahn gegoogelt, runtergeladen, auf die Garmin-App gespielt und dann meine Uhr synchronisiert. Ich bin ein technisches Vollei, aber länger als drei Minuten hat das nicht gedauert.

Foto: thomas rottenberg

Vor dem Loslaufen hatte ich exakt zwei Knöpfe mehr gedrückt als sonst und hatte das perfekte Navi an der Hand: Es zeigte mir die Strecke und jede Abzweigung auf zwei oder drei Meter genau an. Wenn ich – bis auf einmal immer absichtlich – die falsche Route nahm, protestierte die Uhr in Echtzeit. Auf einem eigenen Anzeigeblatt sah ich, wie viel noch vor mir lag und wann ich – würde ich mein aktuelles Durchschnittstempo halten – in etwa ankommen würde. Höhenmeter wurden scheinbar extra gerechnet: Das Höhenprofil zeigte mir, wo ich war und wie viel Hügelei ich noch vor mir hatte.

Wie gesagt: Ich verwende eine (gekaufte) Garmin 935, aber die Uhren anderer Hersteller dieser Preis- und Leistungsklasse können das auch. Diese Features zu nutzen ist keine Hexerei.

Foto: thomas rottenberg

Rennen muss man halt trotzdem selbst. Und bergauf ist bergauf ist bergauf. Den höchsten Punkt des Weges hätte ich mir ein bisserl spektakulärer erwartet. Da war kein einziges Hufeisen. Nur eine verlorene Bike-Trinkflasche.

Aber in dem Moment, in dem ich hier oben war, hatte ich ein anderes Thema: Ich war bisher fast ausschließlich im Schatten gelaufen, und es war kurz nach acht schon richtig warm. Wenn die Sonne jetzt schon über die Mauer blinzelte, würde es auf der anderen Seite des Tiergartens … Prost Mahlzeit. Aber: Da musste ich durch.

Foto: thomas rottenberg

Runter, Richtung Laab, ging es zunächst auf einem schmalen, technischen, von Mountainbikern zum Teil stark ausgefahrenen Trail. Es da so richtig tuschen zu lassen, ist nicht wirklich mein Ding: Ich bin ein bisserl ein Downhill-Schisser. Aber es macht trotzdem Spaß. Und dann kam eh wieder eine Forstautobahn: Vollgas.

Foto: thomas rottenberg

Vorbei an ein paar Nordic-Walking-Wanderern (Wieso schleifen die eigentlich ihre Stöcke immer hinter sich her? Sinn und Nutzen ist doch der Stockeinsatz …), ein paar Forstarbeitern und zwei Moutainbikern, die traurig auf ihre auf dem Boden liegenden E-Bikes schauten. Geht es euch gut? "Danke, dass du fragst. Passt alles." Sicher? "Ja ja, wir brauchen nur eine Rauchpause." Ah, okay. Viel Spaß noch. "Dir auch. Und keine Angst, wir lassen die Kippen nicht im Wald liegen."

Als ich weiterlief, fragte ich mich, ob die beiden mir diesen Gedanken tatsächlich im Vorbeilaufen angesehen hatten. Egal: Wenn sie sich selbst vergiften, ist das ihre Sache. Tschickstummel im Wald gehen aber gar nicht.

Foto: thomas rottenberg

Kurz darauf, beim Laaber Tor, gab es Wasser: Dafür muss man in den Tierpark rein. Das ist zwar logisch, aber viele Leute vergessen, dass der Lainzer Tiergarten nicht 24/7 geöffnet ist. Als ich loslief, war das Nikolaitor noch versperrt, deshalb hatte ich meine Flaschen daheim gefüllt. Sonst warte ich damit meist.

Vom Lainzer Tor geht es wunderschön auf einem gewundenen Singletrail weiter. Parallel dazu verläuft ein Forstweg. Auf dem stand irgendwann eine verzweifelte Frau neben einem Pferd. Das Tier hielt den rechten Vorderhuf knapp über dem Boden.

Alles okay? "Nein, gar nicht: Das Pferd hat sich was eingetreten." Die Dame hieß Siegi, das Pferd Scully. "Da zahlst eine Menge Geld, damit du hier reiten darfst, und dann ist der Boden so, dass die Tiere sich wehtun." Ich habe keine Ahnung von Pferden, aber der Stein war rasch draußen.

Foto: thomas rottenberg

Es war schon warm. Und wurde wärmer. Ich hatte ungefähr die Hälfte der Runde zusammen.

Die Strecke führte jetzt immer öfter auch aus dem Wald heraus. Über Wiesen. Der Sonne entgegen. Landschaftlich schön. Zum Laufen perfekt. Aber: Hot, hot, hot.

Foto: thomas rottenberg

Ich wusste: Demnächst, ab dem Gütenbachtor, würde es deutlich öder werden. Da würde es immer wieder Straßen entlanggehen. Oder durch Siedlungen. Nicht das, was ich mir wünschte. Obwohl derzeit noch alles schön und fein war, konnte ich mir beim Abdriften in den "Prinzessinnenmodus" zuschauen.

Ich wusste genau, was gerade passierte: Ich war am Tag davor eine intensive Radeinheit in der prallen Sonne gefahren und hatte zu wenig gegessen und getrunken. Auch am Abend hatte ich die Speicher nicht vernünftig aufgefüllt. Heute in der Früh auf dem Weg zur U-Bahn hatte ich mir beim Bäcker ein gefülltes Croissant gekauft und rasch runtergeschlungen.

Foto: thomas rottenberg

Ich fuhr jetzt also mit leeren Tanks. War auf dem Weg in den Hungerast dabei mich abzuschießen. Durch Sonne, Mond und Sterne. Mein Kopf spielte mir Streiche. Das zu beenden ist an sich keine Hexerei: Ich müsste lediglich stehenbleiben, in den Rucksack greifen und mir irgendeine Bombe reinknallen. Zucker! Und ab dann weiterfuttern.

Das Problem: Wenn ich so weit bin, schaltet der Körper auf Autopilot. Da kann ich noch so viel "Ich sollte jetzt eigentlich"-Dinge wissen: Ich mache weiter, was ich gerade tue. Das Störtebekersyndrom, light.

Dafür beginne ich mich zu ärgern. Über mich selbst – und darüber, was ich grad falsch mache: ein lustiger Kreisel.

Foto: thomas rottenberg

Zu allem Überdruss kamen mir jetzt auch noch zwei Läufer entgegen, die mir fröhlich zuwinkten: Wir kennen einander. Maria Hinnerth und Clemens Friedler gehören zum Team Vegan. Sie sind nett, sympathisch und richtig schnell. Maria ist, glaube ich, auch Trainerin beim Frauenlauf. Im Winter, beim Bahntraining im Dusika-Stadion, kreuzen sich unsere Wege regelmäßig. Maria und Clemens flogen mir jetzt entgegen, als wäre es angenehm kühl. "Das ist schon die zweite Lainz-Runde", strahlte mich Maria an. Und weg waren sie.

Zwei Runden. Auch noch gut drauf: Genau das hatte ich genau jetzt ganz dringend gebraucht.

Foto: thomas rottenberg

Beim St. Veiter Tor zog ich die Reißleine: Kopf unter Wasser. Raus aus dem Hamsterrad. Kopf unter Wasser. Durchatmen. Kopf unter Wasser – und jetzt essen: Zucker. Zucker. Zucker. Hauptsache schnelle Energie. Dazu zwei Salztabletten (das Zeug direkt in den Mund; bis sich die Hülsen auflösen, bin ich schon daheim). Trinken. Kopf unter Wasser.

Ich spüre, wie da plötzlich wieder Kraft da ist. Weiter, aber vorsichtig: Noch so einen Stunt brauche ich heute nicht. Die Sonne klettert höher.

Foto: thomas rottenberg

Dieser Streckenabschnitt ist seltsam: Mein Gefühl sagt mir, dass ich vom Lainzer Teich über die Hermesstraße auf den "Kleinen Ring" muss und dort an der Mauer zum Lindwurm und über die Wildsau zum Adolfstor. Eine einfache Übung.

Nur: Die heruntergeladene Route führt mich quer durch die Friedenssiedlung und auf seltsamen Schleifen zum Hörndlwald. Ich beschließe weiter- statt logisch stur nach Navi zu laufen. Und trabe an glücklich das Gartensonntagsfrühstück vorbereitenden Hietzinger Bürgerfamilien vorbei. Sie halten mich offensichtlich für plemplem. Verdenken kann ich es ihnen nicht.

Irgendwann bin ich doch wieder im Wald. Und genieße über die Wiesen auf den letzten paar Kilometern Traumblicke auf Wien im Hitzedunst. Das entschädigt sogar für eigene Blödheit.

Foto: thomas rottenberg

Dann endlich und zu guter Letzt stehe ich an der Markwardstiege. Seit ewig ein Klassiker: Jeder Lauftrainer jagt seine Schützlinge irgendwann die 419 Stufen (195 Meter, 36 Prozent Steigung, 65 Höhenmeter, fieserweise sind die Treppenabsätze unterschiedlich lang) rauf. Und noch einmal. Und noch einmal.

Wenn man dann zum Winseln zu gaga ist, noch einmal – aber diesmal bitte schnell. Schließlich, vollkommen zerstört, der Todesstoß: Es gibt einen Markwardstiegenlauf. Der Streckenrekord für Männer liegt bei 1:13,06. Die schnellste Frau schaffte die Treppe in 2:00,7.

Foto: thomas rottenberg

Wie lange ich brauchen würde? Keine Ahnung. Ich bin die Markwardstiege diesmal nur runtergelaufen und brauchte weit länger als zwei Minuten. Auch weil da einer mit seiner E-Enduro spielte und ich natürlich zusah: rauf und runter. Schaut eh leicht aus. Echte Fotos gibt es davon aber nicht: "Wenn man mich erkennt, bringst du mich in Teufels Küche. Danke."

Foto: thomas rottenberg

Zurück, also zum "offiziellen" Ausgangspunkt der Runde beim Nikolaitor, lief ich dann nicht mehr: Ich trabte nur noch gemütlich zur U-Bahn.

Am Hackinger Steg sprach mich jemand an. Er war auf dem Weg zum Bäcker, schon geduscht und vorher laufen: "Hütteldorf–Hietzing. Jeden Sonntag kurz vor acht." Heute hatte er bei Ober Sankt Veit aufgegeben: "Es ist zu heiß: Wer heute rennt, gehört entmündigt."

Ich gratulierte ihm zum Versuch – und widersprach nicht.

Der Lauf auf Garmin-Connect und auf Strava

(Thomas Rottenberg, 8.8.2018)

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