Der israelische Polizist Salim Barakat starb im März 2002, als er in Zivil einen Attentäter stellte, der gerade ein Restaurant in Tel Aviv angegriffen hatte. Als offizielle Todesursache wurde die Durchtrennung der Halsschlagader angegeben: Dem sterbenden Terroristen war es noch gelungen, Salim mit einem Messer eine tödliche Wunde zuzufügen. Viele Jahre nach dem Ereignis steht diese Version allerdings stark in Zweifel. Denn es war auch noch ein Zivilist am Tatort, der mehrere Schüsse abgab. Der Verdacht steht im Raum, dass er es war, der Salim Barakat getötet hat, und zwar wegen eines Missverständnisses: Er hielt den Polizisten, der zur Minderheit der Drusen gehörte, für den Attentäter, und zielte deswegen auf ihn. Für ihn sah Salim Barakat wie ein Araber aus.

Er hat dem Land länger als jeder Vorgänger seine Handschrift verliehen: Dan Shadurs Doku "King Bibi" geht der Karriere Benjamin Netanjahus auf den Grund.
Foto: Jerusalem Film Festival

Am vergangenen Sonntag lief der Film Cause of Death von Ramy Katz, der diesen Fall neu aufrollt, am letzten Tag des Jerusalem Film Festival just an dem Nachmittag, an dem in Tel Aviv neuerlich viele Menschen gegen das neue Nationalitätengesetz auf die Straße gingen, das Israel zu einem ethnisch (und religiös) geprägten Staat machen soll. Die Drusen fühlen sich durch die Zurückstellung der Minderheiten besonders ungerecht behandelt, sie sehen sich als vollwertige Staatsbürger, dienen auch in der Armee und in den Polizeikräften, werden nun aber mehr denn je zu Bürgern zweiter Klasse. Äußerlichkeiten spielen dabei eine Rolle, wie man aus Cause of Death ersehen kann – die neue Staatsideologie hat eindeutig hautfarbliche Aspekte.

Die Hintergründe für das Gesetz sind nicht schwer zu durchschauen, auch auf dem Filmfestival waren sie höchst präsent: Zum einen wächst in Israel schon seit vielen Jahren das Gewicht der jüdischen Frommen, zum anderen geht es um Machtmechanik und um den einen Politiker, der dem Land inzwischen schon länger seinen Stempel aufdrückt, als dies jemals einem Vorgänger gelungen ist: Benjamin Netanjahu oder King Bibi, wie er in einem Dokumentarfilm genannt wird, der nach den Geheimnissen dieser Karriere sucht.

Trailer zu "The Oslo Diaries".
Geomovies

Dan Shadur heißt der Regisseur, der in die Archive ging, um einen Populisten zu verstehen, der Israel seit den 1990er-Jahren auf nationalistischen Kurs gebracht hat. King Bibi lief beim Jerusalem Film Festival passenderweise zwei Stunden nach The Oslo Diaries, einem anderen Dokumentarfilm, in dem das Scheitern des Friedensprozesses zwischen Yitzhak Rabin und Yassir Arafat (vor allem aber zwischen deren diplomatischen Apparaten) noch einmal als Startrampe für Netanjahu gezeigt wird. Mehr als 20 Jahre nach der Ermordung von Rabin durch einen jüdischen Fundamentalisten arbeitet sich Israel und auch das israelische Kino immer noch an dieser fatalen historischen Weichenstellung ab.

Eine der kleinen analytischen Gehässigkeiten in King Bibi besteht darin, dass im Leben des in Amerika aufgewachsenen Netanjahu schon früh immer wieder ein Mann auftaucht, den Shadur schon in jüngeren Jahren als Freak erscheinen lässt: Donald Trumps Mission als Präsident ist aus der Perspektive des "Heiligen Lands" gesehen eigentlich nur eine späte Bestätigung für Dynamiken, die der radikale Pragmatiker Netanjahu mit den jüdischen Siedlern schon viel früher bestärkt hat.

"Züchtiges" Kino

Ein Filmfestival würde allerdings seine Aufgabe verfehlen, wenn es nicht deutlichen Interpretationslinien immer wieder Differenzierungsmomente entgegensetzen würde. Am spannendsten war dabei der Lebensbericht von Uri Zohar.

Er war einmal ein bedeutender Filmemacher, zum Beispiel mit dem anarchischen Loch im Mond (1964). In den 1970er-Jahren wurde er religiös und wirkte danach als Rabbiner. In dem Film Zohar – The Return erzählt er nicht nur beeindruckend von seiner Konversion, er gibt auch Einblick in eine kinematografische Subkultur: Denn die Orthodoxen machen längst ihr eigenes ("züchtiges") Kino, in dem die Regeln penibel beachtet werden. De facto ist das eine Guerilla-Industrie, von der es inzwischen auch eine Branche nur für Frauen gibt, mit Distribution in aller Welt und Jiddisch als neuer, alter Verkehrssprache.

Dass es die eine jüdische Orthodoxie nicht gibt, ist eine Binsenweisheit, die sich während der hochsommerlichen Festivaltage zu Füßen des Zionsbergs in Jerusalem aber vielfach bestätigt hat. Das andere, das arabische Jerusalem ist von diesem kulturellen Ereignis ohnehin weit entfernt.

Das hat nicht zuletzt mit den Gründungsumständen des Jerusalem Film Festival zu tun: Es richtet sich an das liberale Establishment in der Stadt und damit an eine Gruppe, die ihrerseits unter Druck geraten ist. Da müssen neue Geschichten dann manchmal warten, weil die Relektüre alter Geschichten viele Kräfte bindet. (Bert Rebhandl, 8.8.2018)