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Eine Frauenhand mit einem Kompass, wie gut geht das zusammen? Laut einer neuen Studie kommt es vor allem auf das Alter sowie die Nationalität an.
Foto: Getty Images

London/Wien – Es ist einer der Klassiker, wenn es um Unterschiede zwischen den Geschlechtern geht: Frauen können sich (angeblich) schlechter orientieren als Männer. Der Sachbuchbestseller "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" aus dem Jahr 2000 trug dazu bei, dass diese scheinbar naturgegebenen Differenzen zwischen Frau und Mann in Sachen Navigationsfähigkeit als Klischee weiter verfestigten.

Verfasst wurde dieser Welterfolg, der in Deutschland sogar verfilmt wurde, vom australischen Autorenpaar Allan und Barbara Pease, die zwar vorgaben, für ihr Buch sowohl Erkenntnisse der Gehirn- und Evolutionsforschung als auch jene der Verhaltenspsychologie verarbeitet zu haben. Die beiden waren bis dahin freilich weniger als Forscher denn als Versicherungsvertreter und Kommunikationstrainer tätig. Entsprechend ließ die Kritik der seriösen Wissenschaft nicht lange auf sich warten: Bücher wie "Warum Frauen glauben, sie könnten nicht einparken – und Männer ihnen Recht geben" erzielten freilich nur einen Bruchteil der Auflage des Originals.

Wie aber sieht es nun tatsächlich mit dem Orientierungs- und Navigationssinn beim Menschen und den beiden Geschlechtern aus? Die Forschung hat in den letzten Jahren zwar einige Fortschritte gemacht, und 2014 wurde dem norwegischen Neurowissenschafterpaar May-Britt und Edvard Moser sowie ihrem britischen Kollegen John O'Keefe für einschlägige Erkenntnisse zur räumlichen Orientierung im Gehirn der Nobelpreis verliehen.

In vielen Bereichen tappt man gleichwohl im Dunkeln. Erst vor wenigen Tagen konnte eine Studie die im menschlichen Hirn entdeckten Magnetitkristalle dem Kleinhirn zuordnen. Unklar ist freilich, wozu diese bei Männern und Frauen vorhandenen Kristalle beim Menschen dienen sollen. Manchen Tierarten dürften sie vermutlich bei der Orientierung am Erdmagnetfeld helfen – eine Fähigkeit, die beim Homo sapiens eher nicht ausgeprägt ist.

Daten aus einem Videospiel

Ganz neue Daten zur Navigationsfähigkeit beim Menschen stammen aus einer auf den ersten Blick überraschenden Quelle: einem Handy-Videospiel namens "Sea Hero Quest" das eigentlich für andere Zwecke programmiert wurde. Das Spiel, bei dem es unter anderem darum geht, sich Landkarten einzuprägen, von Insel zu Insel zu schwimmen oder Eisbergen auszuweichen, soll nämlich auf spielerische Weise Daten für die Demenzforschung liefern. Denn der Verlust an Orientierungsfähigkeit gilt bei Alzheimer und anderen neurodegenerativen Krankheiten als ein erstes mögliches Warnsignal.

Das Videospiel "Sea Hero Quest" liefert Daten – nicht nur für die Alzheimerforschung
Foto: Deutsche Telekom

"Sea Hero Quest", das von einem internationalen Wissenschafterkonsortium gemeinsam mit dem Spieleentwickler Glitchers und mit Unterstützung der Deutschen Telekom 2016 auf den Markt gebracht wurde, erfreute sich rasch großer Beliebtheit bei Millionen von Spielern rund um den Globus. Für ihre erste Studie basierend auf Datenmaterial von "Sea Hero Quest" wertete das Forscherteam um Hugo Spiers (University College London) die Daten von 2,5 Millionen anonymen Spielern aus, die ihr Alter, ihr Geschlecht und ihre Nationalität verraten hatten.

Alter als eine wichtige Variable

Die Ergebnisse, die im Fachblatt "Current Biology" publiziert wurden, scheinen die gängigen Geschlechterstereotypen, aber auch andere Annahmen zur Orientierungsfähigkeit zu bestätigen. Tatsächlich zeigte sich, dass unser Navigationsvermögen am stärksten vom Alter abhängt und über die Jahre langsam aber stetig abnimmt. Die Hypothese der Forscher, dass der Verlust an Orientierung ein Marker für altersbedingte Demenz ist, wird durch diese Daten quer über alle Länder hinweg untermauert.

Zudem schnitten die Männer bei "Sea Hero Quest" im Schnitt besser ab als Frauen, was die Annahme eines angeborenen Geschlechterunterschieds – jedenfalls auf den ersten Blick – verifiziert. Doch bei Berücksichtigung des dritten Faktors, also des Herkunftslandes, erscheint die quasi natürliche Differenz plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Frauen schnitten bei "Sea Hero Quest" nicht so gut ab, aber ...
Foto: Deutsche Telekom

Bei der Auswertung der Daten nach jenen 57 Ländern, die es auf 500 Teilnehmer oder mehr brachten, wurde nämlich evident, dass die Leistungen bei "Sea Hero Quest" stark mit dem Wohlstand des Landes, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, korrelierten. Am besten schnitten Spieler aus den skandinavischen Ländern, aus Australien und Neuseeland sowie aus Nordamerika ab.

Wo die Personen mit dem besten räumlichen Orientierungsvermögen leben.
Grafik: Antoine Coutrot et al. 2018, Cell Press

Unterschiede nach Ländern

Hauptautor Spiers und seine Kollegen vermuten, dass hohe Bildungsstandards, ein gutes Gesundheitssystem und häufiges Reisen wesentlich dazu beitragen, dass sich die Vertreter dieser Länder beim Online-Navigieren am leichtesten taten.

Bei einem nochmaligen Blick auf die Ergebnisse nach Geschlecht durch die Länderbrille stießen die Forscher auf einen weiteren augenfälligen Zusammenhang: "In jenen Ländern, in denen die Gleichstellung der Geschlechter besonders weit ist, verschwinden die Unterschiede zwischen den Navigationsleistungen zwischen Männern und Frauen bei 'Sea Hero Quest' fast vollständig", sagt Studienleiter Hugo Spiers. Entsprechend gehen die Autoren davon aus, dass die Unterschiede im räumlichen Orientierungsvermögen nicht angeboren, sondern vielmehr umweltbedingt sind. (Klaus Taschwer, 12.8.2018)