In Zeiten diskursiver Anarchie und Debattenverwilderung lohnt es, die Kulturtechnik zivilisierter Auseinandersetzung zu pflegen.

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In Wuppertal gibt es eine Schwebebahn, ein berühmtes Tanztheater, ein forstwissenschaftlich bedeutendes Arboretum – und das Designcafé Swane. Es gehört Selly Wane. Sie stammt aus dem Senegal, ist Muslimin und Ökonomin. Um ihr Studium in Deutschland zu finanzieren, hat sie Handwerksprodukte aus ihrer Heimat verkauft. Irgendwann wurde ein Unternehmen daraus und eben das Café Swane.

Im Frühjahr 2017, vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, lud die junge Frau die Parteien ein, bei ihr zu diskutieren. Auch die AfD. Die Veranstaltung wurde von Linksautonomen gestürmt und musste abgebrochen werden. "Wo bleibt die Demokratie, wenn ich mir sagen lasse, mit wem ich reden darf?", fragte Selly Wane damals. Ein Jahr später erhielt sie den "Seid euch nicht so sicher"-Preis für fairen Umgang miteinander und beispielhafte Streitkultur.

Die Episode aus der deutschen Provinz mag klein und unbedeutend erscheinen. Aber sie illustriert dennoch, dass der zivilisierte Umgang mit gegnerischen Positionen und Personen in unseren Demokratien über die Wupper zu gehen droht. Eine Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, ohne dabei in den Kampfmodus zu verfallen, muss dieser Tage mit Anerkennungspreisen bedacht werden.

"Meinungskriege"

#MeToo,#MeTwo, #NotMe – es scheint, dass beinahe jede Debatte zuletzt zu einem Kulturkampf, zu einem Krieg der Gesinnungen ausartet. Insbesondere dann, wenn Social Media als Amplifikatoren den Ton bestimmen, kippt die Stimmung schnell ins Schrille, Unversöhnliche, in die Logik des Gladiatorenkampfes – Daumen hoch oder Daumen runter.

Die "Welt" beklagte sich unlängst über "Meinungskriege", in denen die Streitkultur dem Drang gewichen sei, die Meinung des anderen nicht nur abzulehnen, sondern diese gleich auszumerzen. Eine Debattenverwilderung sei eingerissen, rabiat und inquisitorisch gehe es zu. Das Springer-Blatt sieht dafür die linken Eliten in der Verantwortung, weil diese den Verlust ihrer Deutungshoheit mit Rüpeleien zu kompensieren versuchten.

Allein, diskursive Anarchie statt zivilisierten Dissenses ist kein Alleinstellungsmerkmal der Linken: Weltanschaulicher Tribalismus, Identitätspolitiken, selbstgerechter Maximalismus und moralistischer Rigorismus schaffen überall im politischen Spektrum eine Art Empörungsmatrix, in der es nicht mehr um Erkenntnisgewinn, intellektuelle Redlichkeit und Empathie geht.

Auf diesem Nährboden wuchern vielmehr Polemik, Denunziation, Diffamation und ein Aneinander-Vorbeischimpfen, die den sozialen Kitt spröde werden lassen. Denn mit bloßer Zanksucht lässt sich keine Wissenschaft, keine Gesellschaft, kein Staat machen.

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Selly Wane

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Bernhard Pörksen

Die Erklärungsver suche für die verfahrene Lage sind mannigfaltig, die Literaturliste zum Thema ist lang. Der Tübinger Medienwissenschafter Bernhard Pörksen stellt in seinem vielbeachteten Buch "Die große Gereiztheit" eine "Deregulierung des Wahrheitsmarktes", einen "kommunikativen Klimawandel" und eine "digitale Empörungsdemokratie" fest.

Insbesondere in den "asozialen Hetz werken" prallten "Selbstabschottung" und "Sofortkonfrontation" aufeinander, daraus entstehe die große Gereiztheit. Die Folge: Statt Diskussionen gibt es inhaltsleeres Spektakel. Mit der kritischen Distanz zu den Dingen und sich selbst verlieren die Menschen, die Citoyens gleich auch den Blick auf das größere Ganze.

Konsens sei nicht Ziel eines Streits, erklärt die Innsbrucker Philosophin Marie-Luisa Frick ("Zivilisiert streiten. Zur Ethik politischer Gegnerschaft"). Freiheit habe einen agonistischen Charakter, sie sei von Rivalität geprägt.

Allerdings, Gegnerschaft sei nicht gleichbedeutend mit Feindschaft. Und genau das wird dieser Tage andauernd missverstanden. Auch an Universitäten. Obwohl vor allem dort das Streben nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit und das Principle of Charity gelten müsste, das, salopp formuliert, besagt, dass der Diskutierende seine Gegenüber nicht von vornherein für ausgemachte Idioten halten möge.

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Marie-Luisa Frick

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Timothy Garton Ash

Auch Timothy Garton Ash, Professor in Oxford und Stanford und regelmäßig Gastkommentator des STANDARD, befasst sich in seinem Buch "Redefreiheit" mit der Lage an den Unis. Insbesondere in den USA verlangen Studenten zunehmend sogenannte Safe Spaces, in denen sie sich erholen können, falls sie mit irritierenden Ansichten in Berührung kommen, die den ihren widersprechen.

Oder sie beginnen ideologisch missliebige Professoren zu überwachen und anonym online zu denunzieren ("Münkler-Watch", ein Blog über angebliche Lehrvergehen des Berliner Politologen Herfried Münkler).

Ash: An den Universitäten müssten "auch noch die anstößigsten Meinungen zivilisiert diskutiert werden". Die Unis seien Tempel der Redefreiheit, eine Infantilisierung des öffentlichen Diskurses sei dort nicht zu dulden. Will heißen: Rüpelhafte Flegeleien und das Dreschen leeren Strohs mit Holzköpfen mögen ruhig andere besorgen.

Große Verwerfungen

Ein Großversuch in diesem Zusammenhang findet derzeit in den Vereinigten Staaten von Amerika statt. Nirgendwo sind die Spaltungen tiefer, die Verwerfungen größer. Nirgendwo wird heißer gestritten über die Streitkultur als in Trumpland. Dort legt sich der Präsident selbst die Latte für seinen kommunikativen Limbo immer niedriger, und andere folgen ihm in der von Unversöhnlichkeit geprägten Atmosphäre der #NoiseIndustry.

Zuletzt etwa ist ein erbitterter Disput über den rechten Demagogen und Verschwörungstheoretiker Alex Jones ("infowars.com") entbrannt. Facebook und Youtube haben die Verbreitung seiner Machwerke gesperrt, Twitter nicht.

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Alex Jones

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Ezra Klein

Die vielen entgeisterten Intellektuellen in den Staaten versuchen, sich nach mehr als einem Jahr der Trump-Präsidentschaft noch immer ihren Reim auf die Dinge zu machen. Der Journalist Ezra Klein ("vox.com") und der Chef des konservativen Thinktanks American Enterprise Institute, Arthur Brooks, unterhielten sich unlängst in Kleins Podcast zum Thema "How to disagree better".

Es ging um die "Null-Summen-Mentalität", die in den Staaten inzwischen die Debatten beherrsche, und die Polarisierung, die daraus entstehe. Den Grund dafür machte Brooks in den Gefühlen fest, mit denen gestritten werde. Ärger lasse Versöhnung zu, Verachtung aber erzeuge unerbittliche Feindschaft. Ärger bedeute, dass sich jemand auf den anderen einlasse. Verachtung signalisiere das Gegenteil.

"Verachtung ist kalt. My way or the highway. Das ist die Polarisierung in der wir uns heute in Amerika befinden", sagt Brooks. Wer sich also ärgere, sei noch bei der Sache. Wer nur noch Verachtung für den anderen habe, zerstöre den Diskurs.

Als Beleg hatte Brooks auch Zahlen parat: Bereits 20 Prozent der Amerikaner hätten heute eine enge Beziehung zu einem Freund oder einem Familienmitglied aufgrund politischer Differenzen gekappt – viel mehr als in den Jahren davor. Und: In einer Zehnjahresperiode nach einer Großrezession würden Populisten gemäß Studien bis zu 30 Prozent mehr Zustimmung in der Bevölkerung erhalten.

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Arthur Brooks

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John Stuart Mill

Das wird man wohl noch sagen dürfen – das ist die Phrase, die diese Populisten gerne verwenden. Und dabei ausblenden, dass wir in Gesellschaften leben, in denen man so viel sagen kann, wie kaum zuvor. Um gekehrt aber muss sich die Öffentlichkeit auch wieder an mehr Streit gewöhnen.

Noch 2008 hat Werner Faymann die Wahlen für die SPÖ mit dem Slogan "Genug gestritten" gewonnen. Inzwischen ist Österreich nach Jahren im diskursiven Wachkoma dabei, sich von der sozialpartnerschaftlich organisierten Konsensdemokratie zur knalligen Konfliktdemokratie zu entwickeln. Davon sind viele überrascht, weil sich in den vergangenen Jahrzehnten allenthalben übertriebene Konsens- und Harmoniesucht breitgemacht hat, die Debatten oft auf Diskursdarstellung reduziert hat.

Streit ist systemrelevant

"Democracy is government by discussion", schreibt John Stuart Mill, der britische Vordenker des Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert. Vor ihm hält der französische Staatstheoretiker Montesquieu fest: "Es gibt keine Freiheit, wenn nicht gestritten wird."

Demokratie also hält die Beschäftigung mit dem Andersdenkenden nicht nur aus, sie braucht sie konstitutiv. Ohne – gelingenden – Streit gibt es sie schlichtweg nicht. Streit ist systemrelevant für die Demokratie.

Was aber bedarf es für einen gelingenden Streit? Er braucht eine gemeinsame Basis, einen festen Grund auf dem sich die Kombattanten einander stellen. Das mag man gemeinsamen Nenner, Bürgersinn oder Common Ground heißen – es ist jedenfalls etwas, das über die jeweils rein persönlichen Interessen der Gegner hinausgeht und das größere Ganze im Blick hat.

Guter Streit darf nicht dem Selbstbetrug des Ausgleichs erliegen. Er darf nicht als Toleranz verkleidete Indifferenz sein, nicht in beredte Sprachlosigkeit münden. Nachdenken, ja Nachgeben darf nicht als Existenzbedrohung begriffen werden. Die Zeit schreibt: "Guter Streit ist offen, er will Sinn suchen und stiften, Zukunft gestalten."

Guter Streit ist eine Kulturtechnik. Sein Minimalergebnis – we agree to disagree – mag manchmal ein unbefriedigendes Ergebnis sein. Aber es ist um vieles besser als schiere Verachtung füreinander. (Christoph Prantner, 11.8.2018)