Für ihren Romanerstling "Hier ist noch alles möglich" erhält die Schweizer Autorin Gianna Molinari gerade sehr viel Beifall.

Foto: Christoph Oeschger

Nicht nur die Buchbranche, auch der Handel mit Karton hat schon bessere Zeiten erlebt. Trotzdem legte die 30-jährige Schweizerin Gianna Molinari eben ihr Romandebüt vor und schickt ihre Heldin darin in eine Verpackungsfabrik. Die junge Frau wird des Niedergangs des Unternehmens gewahr. Das Einzige, was aus dem einst üppigen Sortiment dort noch produziert wird, sind Faltschachteln. Aber selbst die will der Fabrikant nicht mehr herstellen. Seltsamerweise stört das nur sie. Alle anderen haben sich mit dem Ende arrangiert. Das meiste Essen aus der Kantine landet schon lange in der Gefriertruhe.

Warum die junge Frau angesichts all dessen angestellt wurde? Sie soll als Nachtwächterin das Gelände vor einem umher-streunenden Wolf beschützen. Der versetzt die Belegschaft in helle Aufregung. Der Koch will ihn gesehen haben. Er soll die Essensreste der Kantine aus den Mülltonnen fressen. Sonst sind die Indizien für seine Existenz aber eher spärlich. Doch das stört nicht. Die junge Frau wird die Bilder der Überwachungskameras gewissenhaft nach Spuren absuchen, den kaputten Zaun rund um das Gelände flicken und eine Grube ausheben, um das Tier zu fangen.

Widerspenstige Denkerin

Sie wird besessen davon. Doch so fügsam sie alle gestellten Aufgaben erledigt, so widerspenstig bleibt ihr Denken. Sie will die Welt, wie sie sich darstellt, nicht hinnehmen. Aus Überdruss an ihrem als unecht empfundenen, gesetzten vorigen Leben als Bibliothekarin hat sie ihre Zelte in einer anderen Stadt abgebrochen. In ein "Universal-General-Lexikon" trägt sie ihre Überlegungen und Beobachtungen zur Welt ein, will sich ihren eigenen Reim machen.

Als Einzige entwickelt sie Sympathien für das Tier. Sie hegt Mitleid und Verständnis. Denn: "Der Wolf wird nicht gefürchtet, weil er in Containern wühlt und fressen will, sondern weil er eine Grenze überschritten hat. Er hat sein Umfeld verlassen und die Fabrik betreten. Das scheint Grund genug", durchdringt sie die Sache analytisch. Darin liegt der Schlüssel zum Buch.

Ein dunkelhäutiger Mann, der vom Himmel fiel

Denn der Clou an diesem elegant erzählten Romandebüt ist, dass die Autorin den Wolf nie explizit, aber doch klar mit dem gerade so populären Migrationsthema verquickt: Er ist etwas Fremdes, das aus unserem Eigenen draußen gehalten werden soll.

Ein zweiter Handlungskern ballt sich dementsprechend um einen dunkelhäutigen Mann, der in der Nähe der Fabrik vor einigen Jahren vom Himmel gefallen ist. 2010 geschah solches in einer Gemeinde nahe Zürich tatsächlich. Es handelt sich bei dem Opfer mutmaßlich um einen Flüchtling aus dem Kamerun. Er muss im Fahrwerk eines Flugzeugs illegal mitgereist, über den Wolken erfroren und beim Landeanflug heruntergefallen sein. Daraufhin begann Molinari, sich mit dem Thema Grenzen zu beschäftigen. Sechs Jahre hat sie an dem nun vorliegenden Buch geschrieben.

Mit einem Ausschnitt daraus hat Molinari voriges Jahr beim Bachmannpreis den dritten Platz gewonnen, vor ein paar Wochen kam der alle vier Jahre für das Erstlingswerk eines deutschsprachigen Autors vergebene Robert-Walser-Preis dazu. Molinari ist aber auch gesellschaftspolitisch engagiert. "Literatur für das, was passiert" heißt eine Initiative, die sie mitbegründet hat und die unter anderem mit Lesungen Spenden für die gute Sache generiert.

Variantenreicher Zugang

Hier ist noch alles möglich ist für sich genommen in jedem seiner Motive unspektakulär, aber zusammen ergeben sie ein dichtes Gespinst. Molinari weiß bei jedem Satz, was sie tut. Konkrete Aussagen zur Situation heute trifft das Buch nie, es ist mehr ein ganz basaler Beitrag. Das könnte bemüht und vielleicht langweilig werden, würde das Thema von Molinari nicht so variantenreich angegangen. Wenn Molinari etwa einen Elefanten beschreibt, gezeichnet von jemandem, der nie so ein Tier leibhaftig gesehen hat, spielt das gewiss darauf an, wie wir uns aus zweiter Hand Bilder von Geflüchteten machen. Natürlich sind diese dann schief, aber sie formen trotzdem unsere Vorstellung. Und wenn die Ich-Erzählerin einer Bankräuberin so ähnlich sieht, dass sie sich fortan in der Stadt beim Einkaufen von den Leuten verdächtigt und beobachtet fühlt, liegt die Frage nahe: Muss es Flüchtlingen, die oft Misstrauen ausgesetzt sind, nicht genauso gehen?

Der Buchtitel Hier ist noch alles möglich lässt sich nach der Lektüre nur bedingt bestätigten. Mehr denn eine Diagnose zu sein, drückt er eine Sehnsucht der Heldin aus. Sie will, dass sich etwas ändert, will Optimismus. Der Text ist ein Plädoyer für Neugierde statt Angst, für Aufmerksamkeit statt Vorbehalt. Die unaufgeregte, dabei konzentrierte Erzählweise legt jedenfalls nahe, dass von Molinari noch viel zu erwarten ist. (Michael Wurmitzer, 12.8.2018)