Der Goldene Leopard geht nach Singapur: Yeo Siew Hua nimmt die Statuette für "A Land Imagined" entgegen.

Foto: Locarno Festival

Wer jeden Tag ins Kino geht, sieht meist einen neuen Film – und mittlerweile oft eine Fortsetzung. Einem der unterhaltsamsten und zugleich außergewöhnlichsten Filme des Jahres gelingt allerdings beides: La Flor ist, mit einer Länge von mehr als dreizehn Stunden, nämlich als Filmserie konzipiert. Wer sich beim Festival von Locarno also jeden Morgen um halb neun in denselben Kinosaal setzte, der sich von Tag zu Tag mehr füllte, kam zunehmend aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Dass La Flor auch in Österreich regulär ins Kino kommen wird, ist jedenfalls ein Glücksfall. Geschrieben und inszeniert vom argenti nischen Filmemacher Mariano Llinás, gedreht über mehrere Jahre und auf mehreren Kontinenten, erzählt La Flor auf den ersten Blick sechs verschiedene Geschichten. Während sich jede Episode auf ein anderes klassisches Filmgenre bezieht, besteht die Gemeinsamkeit in der Besetzung der vier fulminant aufspielenden Darstellerinnen Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa und Laura Paredes. Ein Quartett in sechs Episoden, zu sehen in acht Teilen und umgeben von dutzenden Nebendarstellern. So weit, so einfach und verwirrend zugleich.

Ein formidables Frauenquartett – hier mit männlicher Geisel – spielt sich durch mehr als dreizehn Stunden Film: Mariano Llinás’ "La Flor" zählte zu den Höhepunkten Locarnos.
Foto: Locarno Festival

La Flor ist aber auch ein schöner Verweis darauf, dass das serielle Erzählen keineswegs eine Erfindung des Fernsehens ist, sondern eine jahrhundertalte Tradition des Kinos.

Die erste Episode im Stil eines B-Movies ("Diejenige Sorte von Film, welche die Amerikaner früher mit geschlossenen Augen gedreht haben und heute nicht mehr drehen können", so Llinás) handelt vom Fluch einer Mumie. Es folgt ein Eifersuchtsdrama mit Musicalelementen, dann ein Agententhriller aus dem Kalten Krieg, während die vierte Episode laut Llinás "schwer zu beschreiben" sei. Dann ein vom französischen Kino inspirierter Teil, ein Western, und so weiter.

Teaser zu "La Flor".
Diego Lerer

Zum Glück kritzelt Llinás zu Beginn sein Konzept in ein Notizbüchlein – und legt damit aber natürlich nur eine erste ironische Fährte für sein verschachteltes Vexierspiel. Wäre dieser Film ein Roman, er stünde irgendwo zwischen den labyrinthischen Erzählungen Jorge Luis Borges’ und den fantastisch-postmodernen Geschichten Italo Calvinos.

Kunst der Strategie

Dass La Flor von der Kritik als Höhepunkt eines starken Wettbewerbs akklamiert wurde, bewies einmal mehr, in welche Richtung sich Locarno – heuer zum letzten Mal unter der Führung Carlo Chatrians, ab 2020 künstlerischer Leiter der Berlinale – in den vergangenen Jahren positiv entwickelte.

Denn die Arbeit an einem Filmfestival beginnt bekanntlich nicht mit der Eröffnung, sondern es bedarf auch strategischer Kunst: aktuelle Themen und mögliche Leitlinien zu erkennen und entsprechend aufzubereiten. Das Locarno-Festival ist, obwohl es den Film aus seinem Titel gestrichen hat, genau deshalb zur Fixgröße für ein progressives, experimentierfreudiges Autorenkino geworden.

Bei seinem mysteriösen Verschwinden hinterlässt der Arbeiter Wang keine Spuren. Schon gar nicht im Sand auf seiner Baustelle in "A Land Imagined".
Foto: Locarno Festival

Das konnte man auch am diesjährigen Gewinner des Goldenen Leoparden feststellen, der innerhalb von vier Jahren bereits zum dritten Mal – diesmal unter dem Vorsitz von Jia Zhang-ke – nach Asien ging: In A Land Imagined erzählt der aus Singapur stammende Yeo Siew Hua von einem Arbeiter (Liu Xiaoyi), dessen mysteriöses Verschwinden im Stadtstaat einen Polizeidetektiv auf den Plan ruft. Inszeniert im Stil eines Neo-Noir ruft A Land Imagined Erinnerungen an die frühen Arbeiten des Hongkong-Bilderstürmers Wong Kar-Wai wach – allerdings inklusive verschachtelter Traumsequenzen und ineinandergreifender Rückblenden.

Selbstbewusste Zeichen

Wer sich im Laufe der Tage hingegen als Zuschauer auf die Spurensuche machte, wurde bald anderweitig fündig: Dass etwa die Wettbewerbsfilme Alice T. des renommierten rumänischen Regisseurs Radu Muntean, das Spielfilmdebüt Diane von US-Kritiker Kent Jones, Yara des irakisch-französischen Autors Abbas Fahdel und Sibel des Autorenduos Guillaume Giovanetti und Çağla Zencirci allesamt einen Frauennamen als Titel führen, ist einerseits natürlich Zufall. Andererseits war man nahezu aufgefordert, das als Zeichen zu lesen.

Tatsächlich verbindet diese Filme – zu denen auch der chilenische Beitrag Too Late to Die Young von Dominga Sotomayor und Gènese des Frankokanadiers Philippe Lesage zu zählen wären – nicht nur, dass sie, aus der Wirklichkeit geschnitzt, aus dem Leben überwiegend junger Frauen erzählen; sondern auch die Weise, wie diese auf ihre Umwelt reagieren: nicht mit emotionalem Rückzug und Abschottung, sondern mit Selbstbewusstsein.

Ausgezeichnet als beste Darstellerin: Andrea Guti als "Alice T." von Radu Muntean.
Foto: Locarno Festival

In Alice T. entscheidet sich die 16-jährige Protagonistin, die mit ihren rot gefärbten Haaren und ihrem rotzigen Auftreten vom ersten Moment an Widerstand signalisiert, Mutter zu werden. Muntean (Tuesday, After Christmas) stößt einen von der ersten Szene an ins kalte Wasser, folgt seiner impulsiven Heldin (Newcomerin Andra Guti wurde mit dem Preis als beste Schauspielerin belohnt) durch ihren Alltag in Bukarest, zur Gynäkologin, in die Schule, mit Freundinnen. Und stellt immer wieder die Frage nach dem Verhältnis zu ihrer Adoptivmutter, mit der sie ein fragiles Band verbindet.

Strudel der Gefühle

Natürlich habe er sich das Genre prägende, sozialkritische Filme wie Rosetta von den Brüdern Dardenne noch einmal an gesehen, so Muntean. Doch im Gegensatz zu Arbeit und Ökonomie gehe es ihm um eine neue Verunsicherung der Gefühle der Jugend – eine Sichtweise, die sich auch in anderen Arbeiten finden ließ: In Yara etwa lebt die jugendliche, modern und selbstbewusst auftretende Heldin mit ihrer Großmutter in einem einsamen Tal im Norden Libanons – und ist gerade hier, im gesellschaftlichen Abseits, jeden Tag dazu aufgefordert, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Und Gènese, Philippe Lesages so irritierend wie wuchtig inszeniertes Drama über ein sich im Gefühlsstrudel verlierendes Geschwisterpaar – er im Internat, sie bei Vater und Stiefmutter –, endet gar so abrupt, als ob es kein Morgen gäbe. Dafür mit einem Epilog über zwei Kinder, eine erste verträumte Liebe und einen Abschied im Sommercamp.

Nicht jedem Ende wohnt ein neuer Anfang inne. Ein passender Schluss für ein Festival, dem ein Neuanfang bevorsteht. (Michael Pekler aus Locarno, 12.8.2018)