Im französischen Vittel ist um das Mineralwasser ein heftiger Streit entbrannt.

Foto: APA/AFP/SEBASTIEN BOZON

Hier decken sich viele der 5.000 Einwohner mit Tafelwasser ein. Eigentlich gibt es eine Obergrenze von sechs Flaschen. Nicht alle nehmen sie bitterernst.

Foto: Stefan Brändle

Vittel ist nicht nur ein Mineralwasser, sondern zuerst einmal ein hübscher Fleck in den Vogesen – der auf einem flüssigen Schatz sitzt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts lebt der Ort von seinem natürlichen Reichtum aus bis zu 300 Meter Tiefe. Vittel war in der Art-déco-Epoche ein Heilbad mit Hotels, Palästen und Kasinos. Heute stehen sie oft leer und verströmen nur noch den Charme verflossener Zeiten.

Umso reger wird heute das "natürliche Mineralwasser" getrunken und weltumspannend von Deutschland bis Japan vertrieben. Ein Sattelschlepper nach dem anderen verlässt das riesige Betriebsgelände von Nestlé Waters, der die Marke Vittel seit 1992 gehört. Rund eine Million Plastik- und Glasflaschen verlassen täglich den Ort, der sich die Devise gegeben hat: "Fonte revivisco" – durch die Quelle zu neuem Leben. Es sei denn, sie beginnt zu versiegen.

Die tägliche Ration

"Nicht doch!", meint die Rentnerin Yvette fröhlich und stellt ihre leere Plastikflasche unter einen der zwei Hähne, die im Ortszentrum Tag und Nacht sprudeln. Hier kommen sich viele der 5000 Einwohner mit Tafelwasser eindecken. Ein Hinweisschild beschränkt das Abfüllen auf sechs Flaschen, doch Yvette schmunzelt diese Obergrenze weg: "Mein Mann hat jahrzehntelang für ein Thermalbad gearbeitet. Da werden sie uns doch wohl auch noch unsere tägliche Ration gönnen?"

Genau das ist aber die Frage. Der Wasserspiegel in der Muschelkalkschicht tief unter dem Dorf sinkt jährlich um 30 Zentimeter. "Wegen Übernutzung", meint der Naturschützer Bernard Schmitt, ohne zu zögern. Nestlé Waters holt jährlich 750 Millionen Liter Wasser aus den Bohrlöchern. Eine Käsefabrik und die kommunale Wasserversorgung bedienen sich ihrerseits. Die natürliche Kompensierung hält damit nicht Schritt: Regenwasser braucht ungefähr sieben Jahre, um mehrere Hundert Meter tief zu versickern.

Wasser vom Nachbarort

Was tun, damit ausgerechnet Vittel nicht austrocknet? Am naheliegendsten wäre es, das Wasserschöpfen für alle einzuschränken. Nestlé Waters hat eine andere Idee: Das Unternehmen soll weiter aus dem Boden von Vittel Wasser schöpfen können; die Einwohner sollen hingegen durch ein Rohr mit Wasser aus einem Nachbardorf, 15 Kilometer östlich von Vittel, versorgt werden.

Dieses Szenario hat das lokale Wasserkomitee Anfang Juli abgesegnet. Seither gehen in der hügeligen Gegend Lothringens die Wogen hoch – politisch gesprochen. Vor den Toren Vittels sieht man auf Strohballen gesprayt den Spruch: "Wasser ist Priorität für die Anwohner." Ein Landwirt meint mit Blick auf seine Felder: "Wenn uns das Grundwasser ausgeht, wäre das der Beginn der Wüste hier."

Schleichende Privatisierung

Der Naturschützer Schmitt, an sich die Ruhe in Person, meint voller Empörung, das Vorgehen Nestlés sei eine "schleichende Privatisierung". Seit dem Kauf der Vittel-Quelle habe der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Vittel geradezu "kolonisiert", meint der pensionierte Arzt in seinem Garten, der vom leerstehenden Thermalhotel Splendid beschattet wird. Nachdem Nestlé die Zahl der Angestellten in der Wasserabfüllung bereits auf 900 halbiert habe, drohe das Unternehmen nun unausgesprochen damit, Vittel ganz abzustoßen. In der lokalen Wasserkommission verfüge es offiziell nur über eine von 45 Stimmen; in Wahrheit setze es sich mit seinen Anliegen immer durch.

Davon zeugten neue Justizermittlungen wegen möglicher Interessenkonflikte, redet sich Schmitt in Schwung. Die Staatsanwaltschaft bringe zunehmend Licht in die Beziehungen einzelner Mitglieder der entscheidenden Wasserkommission. Deren Präsidentin sei zum Beispiel mit einem ehemaligen Nestlé-Manager verheiratet, der noch einen einflussreichen Wasserverein im Ort leite.

Trinkwasser aus der Ferne

Von Nestlé Waters ist in Vittel niemand für eine Stellungnahme abkömmlich. Auf eine Presseanfrage, warum die Vittel-Einwohner in Zukunft mit Trinkwasser aus der Ferne abgespeist werden sollten, antwortet die Direktion indirekt: Sie verweist in einer schriftlichen Antwort auf die Vorleistungen, die Nestlé schon für den Ort Vittel erbracht habe. So habe sie die Schöpfmenge bereits von sich aus um 25 Prozent gesenkt, zum Teil, indem sie die früheren Wasserlecks eingedämmt habe. Und vor allem habe Nestlé Waters seit über 25 Jahren viel für die Nachhaltigkeit der lokalen Wasserversorgung und -qualität getan. Die Tochtergesellschaft Agrivair kaufe Agrarböden auf und trete sie an Landwirte ab, die sich im Gegenzug verpflichteten, auf Pestizide und Nitrate zu verzichten. "Auf diese Weise sind heute 10.000 Hektar durch die Vorgabe 'Null Pestizide' geschützt", schreibt die Direktion von Nestlé Waters, die auch Marken wie Contrex, Perrier oder San Pellegrino besitzt.

Natürlich denkt sie dabei zuerst an den Schutz des eigenen Mineralwassers. Aber auch das Dorf und die Biosphäre profitierten. Bisher jedenfalls: Wieweit das Trinkwasser von anderswo rein bleiben wird, muss sich weisen.

"Hauptsache, auf unserem Gemeindegebiet kommen keine Pestizide und Herbizide mehr zum Einsatz", freut sich Vittels Bürgermeister Franck Perry, während er dem Besucher – natürlich – ein gekühltes Fläschchen Vittel serviert. Von seinem Fenster aus blickt der konservative Gemeindevorsteher direkt auf das Nestlé-Logo am nahen Flaschenabfüllwerk. Der große Arbeitgeber im Ort ist omnipräsent.

"Keine Erpressung"

Dass die lokale Wasserkommission – und damit der Entscheid über die Pipeline – insgeheim von Nestlé dirigiert werde, wie einzelne Bewohner behaupten, stellt der Bürgermeister in Abrede: "Auf uns wird kein Druck ausgeübt."

Warum hat er dann in der Wasserkommission für die Versorgung der Bewohner via Rohrleitung gestimmt? "Das war angesichts der Wasserverknappung die am wenigsten schlechte Lösung", meint Perry, ohne zu verhehlen, dass andernfalls Arbeitsplätze in der Wasserabfüllung gefährdet gewesen wären. Von Erpressung will er aber anders als die Grünen nicht sprechen: "Immerhin habe ich Nestlé dazu gebracht, dass sie die Rohrleitung finanzieren." Die Kosten werden auf 1,5 Millionen Euro geschätzt.

"Für die Dorfbewohner bleibt das Wasser deshalb kostenlos", meint Perry stolz. Was er weniger gern bestätigt: Nestlé entrichtet via Mineralwassersteuer fünf Millionen Euro an Vittel – und stellt damit 27 Prozent des Gemeindebudgets.

Wasserkommission entscheidet im Herbst

Die Wasserkommission aus Behördenmitgliedern, Fabrikanten und Verbänden dürfte im Herbst definitiv entscheiden, ob die so wasserreichen Bewohner von Vittel ihr Tafelwasser in Zukunft bei den Nachbarn holen müssen. Doch wer wird schon einem so prominenten Steuerzahler den Wasserhahn zudrehen? (Stefan Brändle aus Vittel, 13.8.2018)