Politischen Debatten, die im Sommerloch hochkochen, soll man nicht über Gebühr Aufmerksamkeit schenken. Aber die Diskussion über die programmatische Ausrichtung der SPÖ läuft dermaßen empiriebefreit ab, dass etwas datengestütztes Geleit nicht schaden kann.

Unter anderem geht es in dieser Debatte um die Frage, wie sich die SPÖ in puncto Zuwanderung positionieren soll. Der burgenländische Landesrat und ehemalige Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil wünscht sich einen stärkeren Fokus auf das Thema (und damit wohl auch einen restriktiveren Kurs), während Parteichef Christian Kern die Schwerpunktsetzung Richtung Klimawandel und Weltoffenheit verteidigt.

Hans Peter Doskozil war sich in Sachen Strategie mit Christian Kern nicht ganz einig.
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Zwei Dimensionen

Derartige Debatten über politische Themenschwerpunkte und Positionierungen haben immer zwei Dimensionen, eine substanzielle und eine strategische. Substanziell geht es darum, welche Inhalte eine Partei als besonders zentral in einer zukünftigen Regierung erachten würde. Wer erfolgreich regieren will, braucht zumindest einen groben inhaltlichen Kompass für zukünftige Koalitionsverhandlungen und Regierungsarbeit.

Aus strategischer Sicht steht hingegen die Frage im Vordergrund, welche inhaltliche Positionierung die Chancen einer Partei bei der nächsten Wahl optimiert. Eine mögliche Interpretation der SPÖ-internen Meinungsverschiedenheit ist also, dass Kern stärker substanziell und Doskozil stärker strategisch argumentiert.

Positionierung zum Multikulturalismus

Zumindest die strategische Debatte lässt sich auch mit Daten unterfüttern. Die Abbildung unten zeigt die Positionierung 18 westeuropäischer sozialdemokratischer Parteien beim Thema Multikulturalismus (also hauptsächlich Fragen von Zuwanderung, Integration und Diversität) und die dementsprechenden Stimmengewinne beziehungsweise -verluste bei Wahlen seit 1990 (jeder Punkt stellt eine sozialdemokratische Partei bei einer Wahl dar).

Die Daten zur Multikulturalismus-Positionierung der Parteien stammen vom Manifesto-Projekt des Wissenschaftszentrums Berlin, einem sozialwissenschaftlichen Mammutprojekt, das die Wahlprogramme von über 1.000 Parteien in dutzenden Ländern weltweit Satz für Satz inhaltlichen Kategorien zuordnet. Zwei dieser Kategorien ("Multikulturalismus positiv" und "Multikulturalismus negativ") wurden für die Berechnung der Positionen verwendet. Angegeben wird dabei jeweils, wie viel Prozent der Sätze eines Wahlprogrammes in eine Kategorie fallen (mehr zur Codierung der Wahlprogramme kann man hier und hier nachlesen).

Der Berechnungsmodus

Wenn also zum Beispiel fünf Prozent des Wahlprogrammes in die positive und zwei Prozent in die negative Multikulturalismus-Kategorie fallen, dann wird mit folgender Formel die Position berechnet: ln (2 + 0,5) – ln (5 + 0,5) = 0.79. Der natürliche Logarithmus stellt sicher, dass der 100. Satz zu Multikulturalismus in einem Wahlprogramm nicht gleich viel wiegt wie der erste. Die Addition von 0,5 erlaubt, dass auch Fälle, wo eine der zwei Kategorien bei einer Partei unbesetzt ist, in die Berechnung aufgenommen werden (der natürliche Logarithmus von Null ist nicht definiert). Weisen beide Multikulturalismus-Kategorien den Wert Null auf, fällt der Fall aus der Darstellung heraus. (Hier gibt es mehr Details zu dieser Positionsberechnung.)

Die Werte auf der x-Achse sind also nicht gut direkt interpretierbar – sie zeigen aber die in einem Wahlprogramm kommunizierte Parteiposition an: Je negativer die Werte, desto mehr Pro-Multikulturalismus-Argumente gibt es, je positiver die Werte, desto präsenter sind Anti-Multikulturalismus-Argumente.

Es zeigt sich auf den ersten Blick, dass die Positionierung sozialdemokratischer Parteien beim Thema Multikulturalismus kaum im Zusammenhang mit ihrem Wahlerfolg steht (r = 0.11). Stimmengewinne und -verluste gibt es quer durch das Multikulturalismus-Spektrum. Die niederländische Arbeiterpartei verbuchte 2003 mit einer restriktiven Positionierung starke Gewinne, jedoch gelang der irischen Labour Party 2011 ähnliches mit einer recht liberalen Position. (In beiden Fällen war wohl anderes entscheidend: Die meisten Datenpunkte mit hohen sozialdemokratischen Gewinnen treten nach langen Oppositionsjahren auf).

Wahr ist allerdings, dass die größten Verluste (minus zehn Prozentpunkte und mehr) allesamt im Bereich links der Nulllinie liegen. Allerdings mag das auch einfach damit zu tun haben, dass sozialdemokratische Parteien prinzipiell öfter liberale Positionen beim Thema Multikulturalismus einnehmen (drei Viertel der dargestellten Fälle liegen links von Null auf der x-Achse).

Mehre Optionen für Wahlsiege

Wahlen gewinnen können sozialdemokratische Parteien also auch mit liberalen Positionen zur Zuwanderung, ebenso kann man Verluste mit restriktiven Positionen einfahren. In einer jüngst veröffentlichten Studie kommen die Politologen Tarik Abou-Chadi (Universität Zürich) und Markus Wagner (Universität Wien) sogar zum Ergebnis, dass kulturell liberale Positionen für sozialdemokratische Parteien (gemeinsam mit anderen Faktoren) Teil eines wahlstrategischen Erfolgsrezepts sein können.

Angesichts der bestehenden internen Differenzen wird der SPÖ-Kurs beim Thema Zuwanderung vielleicht noch länger umstritten bleiben – wahlentscheidend ist er deswegen noch lange nicht. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 14.8.2018)