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Für viele ist es kein Rätsel, weshalb die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan in eine Finanzkrise geschlittert ist.

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Die Wahrheit ist komplexer. Kaum Exporte, viele Importe: Die Türkei ist auf immense externe Geldflüsse angewiesen.

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Ein Autokrat betreibt schlechte Wirtschaftspolitik und fährt sein Land gegen die Wand. Für viele ist es kein Rätsel, weshalb die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan in eine Finanzkrise geschlittert ist. Doch die Wahrheit ist komplexer. Die Türkei erlebt eine für viele Schwellenländer typische Währungskrise. Hinzu kommen die hausgemachten Probleme durch Erdoğan.

Ein Kreditboom und spekulative Geldflüsse

Wohnhäuser, Bürotürme, Einkaufszentren: Die Türkei hat in den vergangenen Jahren einen Bauboom erlebt. Einer der Gründe dafür war, dass Unternehmen und Privathaushalte massenhaft Kredite aufgenommen haben. Seit 2008 ist die Verschuldung des Privatsektors in einem Umfang gestiegen, der 40 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung entspricht. Nur in China war der Anstieg laut Internationalem Währungsfonds (IWF) höher. Der türkische Staat hat diese Entwicklung mit Kreditgarantien gefördert.

Der Kreditboom war vor allem dank des billigen Geldes möglich: Investoren hatten wegen der lockeren Geldpolitik vieler Notenbanken freien Zugang zu Dollar und Euro. Wegen niedriger Zinsen in den USA und im Euroraum waren die Möglichkeiten, dieses Geld anzulegen, rar. Die Türkei mit ihrem höheren Zinsniveau war eine attraktive Alternative. Anleger kauften eifrig türkische Aktien, Anleihen und andere Wertpapiere.

Gewaltige Lücke in der Leistungsbilanz

Diese Mittel nennen Ökonomen "spekulative Geldflüsse", weil Anleger ihr Kapital nicht langfristig in den Aufbau der türkischen Wirtschaft stecken, also zum Beispiel keine Unternehmen kaufen, sondern nur auf kurzfristige Rendite schielen. Wirklich langfristige Investments in die Türkei aus dem Ausland gab es dagegen kaum: 2017 beliefen sich Auslandsinvestitionen auf gerade einmal ein Prozent der Wirtschaftsleistung. "Die Furcht vor der instabilen Politik Erdoğans war mitverantwortlich dafür", sagt Richard Grieveson, der am Wiener WIIW-Institut über die Türkei forscht.

Hinzu kommt, dass die Türkei wenige Waren exportiert, weil die Industrie unterentwickelt ist. Was Türken konsumieren, führen sie dagegen zu einem großen Teil aus dem Ausland ein. Kaum Exporte, viele Importe: Um das zu finanzieren, ist ausländisches Kapital notwendig. Insgesamt ist die Türkei also auf immense externe Geldflüsse angewiesen. Das Leistungsbilanzdefizit – so nennen Ökonomen die Kluft in der Bilanz eines Landes –, das mit ausländischem Kapital gedeckt werden muss, entsprach im vergangenen Jahr 5,5 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung. Das ist laut IWF der höchste Wert unter Schwellenländern.

Das Umfeld wird rau, und es kracht

Ein hohes Leistungsbilanzdefizit macht Länder verwundbar, weil ein plötzlicher Stopp ausländischer Geldströme eine Krise auslösen kann. Genau das ist über die vergangenen Monate passiert. Investoren haben begonnen, ihre Gelder abzuziehen. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Die Erdölpreise sind angestiegen, was für den türkischen Staat bedeutet, dass er mehr Devisen benötigt, um Rohstoffe einzukaufen. Die Zinserhöhungen der US-Notenbank wirken ebenfalls belastend. Der Staat und viele Unternehmen sind in Dollar verschuldet. Höhere Zinsen machen Kredite teurer. Hinzu kam noch der Streit mit der US-Regierung rund um einen in der Türkei inhaftierten Pastor. Als Folge haben die USA die Türkei mit Strafzöllen auf Stahlprodukte belegt. "Das allein ist ein geringfügiges Problem", sagt Ökonom Grieveson. Aber Erdoğan hatte erklärt, nicht nachgeben zu wollen. "Investoren fürchten, dass sich der Konflikt immer weiter hochschaukelt, sodass die türkische Wirtschaft doch darunter leidet", so Grieveson. "Ein Wirtschaftskrieg gegen die USA wäre selbstmörderisch." Investoren haben also ihr Vertrauen in das Land verloren.

Die Notenbank reagiert zu spät

Hinzu kommt laut Ratingagentur Scope, dass die Notenbank in Ankara zu spät reagiert hat. Wenn die Währung verfällt, ist die Anhebung der Leitzinsen eine Maßnahme dagegen. Die türkische Notenbank hat reagiert, aber für viele zu zögerlich und zu spät. Höhere Zinsen würgen das Wachstum ab: Das wollte Erdoğan explizit verhindern.

Der fatale Mix rächt sich nun, weil Investoren zu spekulieren beginnen, sagt der Ökonom Vladimir Gligorov. Anleger tauschen ihre Lira in Dollar und wetten darauf, dass sie später türkische Wertpapiere dank des Liraverfalls extrem billig zurückkaufen können. Das beschleunigt den Währungsverfall zusätzlich. (András Szigetvari, 13.8.2018)