Die junge Chinesin stolperte rückwärts aus dem Eingang heraus, hielt erschrocken ihre Hand vor den Mund, als ob sie auf ein Ungeheuer gestoßen wäre. Zumindest sah sie eins. Da stand die Figur eines kleinwüchsigen Mannes, sein Körper mit Ketten gefesselt bis auf den riesigen Penis, den er ihr entgegenstreckte. Auf so viel Männlichkeit war die Besucherin beim Eintritt in Chinas Museum für die Kultur der Sexualität nicht gefasst gewesen.

Der Bildhauer Yu Qingcheng hat den potenten Kobold erschaffen. Auf den Sockel der Skulptur schrieb er: "Sexualität ist ein essenzielles Bedürfnis des Menschen. Sie lässt sich nicht in Ketten legen." Im prüden China ist das eine Provokation.

Doch selbst die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua lobte das frivole Kunstwerk, ebenso wie das Museum mit seinen mehr als 1.000 Objekten zur erotischen Kunst und Kultur des alten China: "Wir haben ein 5.000 Jahre altes Tor aufgestoßen."

Antike Ausstellungsstücke

Der Besitzer der Sammlung ist weniger euphorisch. "Das Tor steht erst halb offen", sagt der Soziologe und Sexualwissenschaftler Liu Dalin in seiner 260 Kilometer vom Museum entfernten Wohnung in Schanghai. "Der tausendjährige Feudalismus sitzt noch zu tief in unserer Gesellschaft."

Drei Stunden dauert die Autofahrt mit dem 86-Jährigen zu dem malerischen Touristenresort mit dem Namen Oriental Yanhu-City. Es versteckt sich in der taoistischen Klosterlandschaft der Maoshan-Berge tief in Ostchinas Provinz Jiangsu und dort an der Straße der Taoistischen Sitten 69. Die Hausnummer symbolisiert auch Yin und Yang, das Urprinzip der Vereinigung von Männlichem und Weiblichem.

Lius Museum ist Teil von mehr als einem Dutzend Ausstellungshallen zur taoistischen Kultur, aber auch zur Folklore. Bis auf den satirisch gemeinten Kobold am Eingang, der eigens für seine Sammlung angefertigt wurde, sind die anderen Ausstellungsstücke im zweistöckigen Gebäude antik.

In Vitrinen liegen Porzellandöschen. Sie standen einst auf dem Boden von Mitgifttruhen und klärten mit ihren inwendigen Zeichnungen das frischvermählte Paar auf, was es in seiner Hochzeitsnacht alles anstellen kann.

Am Eingang von Chinas Museum für die Kultur der Sexualität wartet ein erfreuter Kobold.
Foto: Johnny Erling

70 Prozent der Besucher männlich

Zu sehen sind 2.000 Jahre alte Keramiken zum Liebesakt. Kunstvoll modellierte Porzellanfiguren führen die neun Stellungen vor, die im 2.500 Jahre alten Buch der Sunüjing von Generation zu Generation weitergegeben wurden. An den Wänden hängen Roll- und Seidenbilder mit Frühlingspalast-Malereien (Chungonghua). Sie enthüllten ihren Besitzern alle Szenen des Wolke-und-Regen-Spiels, wie der Liebesakt im alten China umschrieben wurde.

Vor solchen Bildern stehen meist junge Männer, die mit ihren Handys alles abfotografieren. "70 Prozent unserer Besucher sind männlich", sagt eine Führerin. Draußen zieht eine Mutter lautstark ihren fünfjährigen Sohn weg. "Geh da nicht rein! Da drinnen lauert ein Tiger."

Liu ist solche Ängste gewohnt, ohnehin ist der Besuch für Minderjährige verboten. Der Soziologe, der seit 1973 der KP Chinas angehört, musste sich mit seinen Ausstellungen immer wieder gegen Anfeindungen spießiger Verwaltungen, verklemmter Zeitgenossen oder ideologischer Saubermänner durchsetzen: "Sexualität ist nicht vulgär und keine Pornografie. Es liegt nur an uns, ob wir sie vulgär machen."

Hinweisschild verboten

Liu hatte zuvor fünf andere Museen eröffnet, seit er 1982 den im Zuge der chinesischen Reformen geschaffenen Lehrstuhl für Gesellschaftslehre an der Universität Schanghai übernahm. Drei der Galerien musste er wegen zu hoher Kosten oder amtlicher Schikane wieder schließen. In Schanghai durfte er 1999 sein Sexmuseum an der berühmten Fußgängerzone Nanjinglu einrichten.

Doch ihm wurde verboten, ein Hinweisschild aufzustellen. "Die Nanjinglu ist die Nummer eins aller Haupteinkaufsstraßen Chinas", erklärte die Stadtbehörde. "Obszöne Wörter wie Sex dürfen hier nirgendwo stehen." Nach 20 Monaten war das Museum mangels Besucher pleite.

Da nützte es nicht, dass Liu international renommiert war. Von 1989 bis 1991 hatte er mit Unterstützung staatlicher Behörden 20.000 Chinesen zu ihrem Sexualverhalten interviewt. Die Auswertung machte ihn als Verfasser von Chinas erstem "Kinsey-Report" weltbekannt und brachte ihm auch im Ausland Forschungspreise ein.

In den Befragungen stieß Liu auf weitverbreitete Unkenntnis über den eigenen Körper und auf viele tradierte Vorstellungen. Einige der mehr als zehn Jahre verheirateten Paare erklärten, sie hätten noch nie Sex miteinander gehabt.

Das war für ihn der Antrieb, die Tradition und Philosophie hinter Chinas Sexualität zu erforschen, erotische Objekte zu sammeln und auszustellen. Dabei geriet der Professor angesichts der staatlichen Antipornografie-Kampagnen in eine rechtliche Grauzone.

In einer groß angelegten Befragung über Sexualität von 1989 bis 1991 stießen Wissenschafter auf große Unkenntnis.
Foto: Johnny Erling

Spottbilliges Tabu

Heute besitzt er mit über 4.000 antiken Exponaten die größte Sammlung zur Kulturgeschichte des Sex in China, die er auch in zwei weiteren Museen in Wuhan und Haikou ausstellt. Er besitze mehr als 30 großformatige Phallussymbole aus Stein, die alle mehr als 5.000 Jahre alt seien, erzählt Liu. "Niemand außer mir wagte, so etwas zu kaufen. Ich erhielt meine Stücke oft spottbillig."

In Chinas Altertum war der Umgang mit Sexualität so allgegenwärtig, dass sich 160 heutige chinesische Schriftzeichen davon ableiten. Das zeigen die Piktogramme der vor 3.500 Jahren entstandenen chinesischen Orakelschrift, die auf Schildkrötenpanzern oder Ochsenknochen eingeritzt wurde und so erhalten blieb.

Liu nennt als Beispiel das modifizierte heutige Zeichen "lun", das Ethik oder normiertes Verhalten bedeutet. Es entwickelte sich nach und nach aus dem Orakel-Bildzeichen eines Penis über einem Zaun. Schließlich waren sexuellen Aktivitäten auch im Altertum Grenzen gesetzt, etwa durch das Inzuchtverbot. Auch das moderne Zeichen "bu" für Nein hat eine überraschende uralte Herkunft. Es zeigt eine Frau während ihrer Periode, die von Männern in Ruhe gelassen werden soll.

Bis vor rund 1.000 Jahren ging Chinas Gesellschaft natürlicher mit Sexualität um als heute.
Foto: Johnny Erling

Monogamie als Kontrolle der Gesellschaft

Bis zum Ende der Tang-Dynastie vor etwa 1.000 Jahren ging Chinas Gesellschaft natürlich mit Sexualität um. "Als Ideal körperlicher Liebe galt es, gemeinsam Freude zu empfinden und dabei umsichtig, achtungsvoll und entspannt miteinander umzugehen", so Liu.

Die Toleranz endete plötzlich. Die nach innen politisch instabile und schwache Herrschaft der nachfolgenden Song-Dynastie setzte die Monogamie für die Frau durch, sagt Liu. Ihr Ziel war Kontrolle der Gesellschaft. Konfuzianische Lehren wurden zur Staatsideologie, und sie tabuisierten die Sexualität.

Jüngst hat Liu ein Buch über Konfuzius und die Kultur der Sexualität geschrieben. Der altchinesische Weise hatte zwar ein natürliches Verhältnis zur Sexualität, aber er sah auch auf Frauen herab. Das missbrauchten spätere Dynastien zur Unterdrückung von Frauen.

Verkrüppelung von Frauenfüßen

Von Kind an wurden ihnen die Füße verkrüppelt. Die "Lilienfüße" hinderten sie an der Flucht aus dem Haus und waren in grotesker Weise auch Sexualobjekte. Frauen mussten ihre kleinen Schuhe beim Geschlechtsakt anbehalten, der Mann konnte sie mit einer Hand umfassen und damit spielen. Die sexuelle Kulturgeschichte, die Liu erforscht, ist immer auch eine Geschichte von Herrschaft, Ignoranz, des Konservativismus und der Abschottung.

Das Jahr 1982 brachte die Zäsur, die den damals 50-jährigen Liu zu Chinas Sexologen Nummer eins werden ließ. Er wuchs in einer großbürgerlichen Schanghaier Familie auf, besuchte die besten Schulen und die Universität Peking.

In den Revolutionszeiten der Volksrepublik diente er zuerst 20 Jahre als Soldat bei einer Luftwaffeneinheit und arbeitete danach für eine Schanghaier Messgerätefabrik. 1976, sechs Jahre nach Maos Tod und dem Ende der Kulturrevolution, berief ihn die Schanghaier Universität als Soziologen an ihr neugegründetes Kulturinstitut. "Ich fing ganz neu an."

Mehr Sexualverbrechen nach Kulturrevolution

Als Professor war Liu zunächst für das Thema "Ehe und Familie" zuständig. Damals setzte Peking gerade seine Einkindpolitik durch. Liu veröffentlichte aufsehenerregende Untersuchungen über Chinas hohe Scheidungsraten und die Zunahme der Sexualverbrechen nach der Kulturrevolution. Ein Drittel der von ihm Befragten nannten als Grund ihrer Trennung zerrüttete Beziehungen. "Sie verstanden darunter schlechten Sex", erzählt er.

Daraus entstand die Idee für seine Kinsey ähnliche Massenstudie. Vier ausgewählte Personengruppen wurden befragt, darunter Mittelschüler, Studenten, mehr als zehn Jahre verheiratete Paare und verurteilte Verbrecher. 40 Assistenten und 510 Mitarbeiter holten mehr als 20.000 verwertbare Antworten ein.

Das Team brauchte nur 15 Monate, weil es im Auftrag der Familienplanungsbehörde forschte. Doch Begriffe wie Orgasmus mussten umschrieben werden, weil die meisten Befragten nie davon gehört hatten. Der deutsche Sexualwissenschafter Erwin J. Haeberle beriet Liu. "Er hat mir die Tür zu den Kollegen im Ausland geöffnet. Ich war neunmal in Europa und oft in Berlin."

Ignoranz, Konservativismus und Abschottung

1992 erschien der 866-Seiten-Report "Sexual Behavior in Modern China". Eines seiner Ergebnisse: Chinas Gesellschaft behandelte Sexualität mit Ignoranz, Konservativismus und Abschottung. Liebespaare trauten sich nicht, auf der Straße Händchen zu halten. Geschiedene Frauen wurden stigmatisiert.

Noch heute ist Sexualität unter Schwulen und Lesben, in der Armee oder unter nationalen Minderheiten ein heikles Thema in China. Doch immerhin ist Homosexualität seit 1997 nicht mehr strafbar, und seit 2001 gilt sie nicht mehr als seelische Störung.

Die Chinesen sind freizügiger geworden. Daran hat auch Sexpapst Liu mit seiner Studie und bis heute 153 veröffentlichten Büchern einen Anteil. Derzeit sehe er in China zwei Strömungen, sagt Liu, die offizielle, weiterhin puritanische Haltung und die von der neuen Generation verlangte und gelebte absolute Freiheit.

Letztere zeige sich auch in deren Protest gegen fehlende gesellschaftliche Reformen, den Mangel an offenem Diskurs und die Korruption. Für ihn gebe es in Sachen Sexualität zwei Verhaltensregeln: Beziehungen müssten immer freiwillig sein und dürften dem Partner nicht schaden.

Bei der Rückfahrt im Lastwagen nimmt Liu aus dem Lager einige Hundert Objekte mit. Er plant bereits eine weitere ständige Ausstellung in Nantong, 120 Kilometer vor Schanghai. 2019 soll es so weit sein. Die Schau soll Museum für das Leben heißen. Dazu gehöre doch ein offenes Verhältnis zur Sexualität. Kein Sex, kein Leben. (Johnny Erling aus Schanghai, 14.8.2018)