26 Jahre hatten Astronomen der Europäischen Südsternwarte mit ihren Teleskopen vergeblich gesucht. Am 19. Mai dieses Jahres war es endlich so weit: Da beobachteten sie den Stern S2, wie er mit 25 Millionen Kilometern pro Stunde auf das Zentrum der Milchstraße zuflog. Als er in die Fänge des dort sitzenden Schwarzen Lochs geriet, strahlte er plötzlich rötlich, sein Licht wurde durch die Wirkung des Schwerefelds gedehnt.

Der Stern S2 ist in dieser Illustration beim Vorübergang am schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße zu sehen.
Foto: ESO/M. Kornmesser

"Gravitative Rotverschiebung" heißt dieser nun erstmals nachgewiesene Effekt. Vorhergesagt wurde er von Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Ebenso wie viele andere sonderbare Phänomene im Kosmos, die Gravitationswellen, die Existenz Schwarzer Löcher, die Lichtablenkung – et cetera. Der Chefingenieur des Universums hat recht behalten. Wieder einmal.

Die allgemeine Relativitätstheorie hat in den mehr als 100 Jahren ihres Bestehens noch jeder Überprüfung standgehalten. Ihre Gleichungen beschreiben die Verhältnisse im Universum so akkurat, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, Einstein habe dem lieben Gott (dem "Alten", wie er zu sagen pflegte) in einem Moment der Inspiration ein wenig über die Schulter geblickt.

Als handle es sich hier nicht bloß um ein erfolgreiches Modell, sondern um eine Beschreibung der Welt, wie sie wirklich ist. So nimmt es auch nicht wunder, dass unser alltägliches Zeitempfinden ohne große Widerstände aus dem Weltbild entfernt und durch die Botschaft des Reformators Einstein ersetzt wurde.

Das Ende des Absoluten

"Das Jetzt wurde von der Physik getötet", sagt der italienische Gravitationsphysiker Carlo Rovelli. Und meint damit die absolute Zeit, wie sie einst Isaac Newton dem Kosmos eingepflanzt hatte: An ihre Stelle tritt das vierdimensionale Universum, in dem die Masse den Raum krümmt und schnell bewegte Uhren langsamer ticken. Die Gegenwart im globalen Sinne existiert nicht mehr. Das scheinbar so unproblematische Jetzt, so lehrte Einstein die erstaunte Weltöffentlichkeit, ist ohne Angabe der Bewegung des Beobachters kein sinnvoller Begriff. Zeit fließt – aber sie tut es relativ.

Nun gibt es auch Physiker und Philosophen, die sogar das abstreiten. Blockuniversum heißt dieses Modell, in dem sich der Unterschied von Gestern und Morgen auflöst und die Zeit, der Inbegriff der Veränderung, zu einem starren und statischen Ding wird. "In der allgemeinen Relativitätstheorie ist es natürlich, die Raumzeit wie eine Leinwand zu betrachten. So wie ein Maler, der außerhalb von Raum und Zeit steht", sagt Renato Renner von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. "Von außen betrachtet ist bereits jedes Ereignis auf dieser Leinwand eingezeichnet. Alles ist schon da."

Der theoretische Physiker Carlo Rovelli beschäftigt sich mit der Physik und Philosophie der Zeit. In "The Order of Time" (Penguin, 2018), in deutscher Übersetzung "Die Ordnung der Zeit" (Rowohlt, 2018) widmet er sich ebenfalls diesem Thema.
Penguin Books UK

Zukunft und Vergangenheit

Wenn die Physiker Einsteins Gleichungen lösen, dann macht es in der Tat keinen Unterschied, ob sie die Zukunft aus der Vergangenheit berechnen oder umgekehrt die Vergangenheit aus der Zukunft. Und weil in diesem vollständig determinierten Universum, so wie es sich in den Raum-Zeit-Diagrammen darstellt, schon alles eingezeichnet ist, scheint es auch kein Werden und kein Vergehen zu geben. Das jedenfalls behauptet Brad Skow. "Zeit fließt nicht", sagt der Philosoph vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).

"Wenn Sie so etwas auf einer Cocktailparty behaupten, wird Sie natürlich jeder für komplett verrückt erklären", sagt Skow. In akademischen Kreisen indes nimmt er sich kein Blatt vor den Mund. Die weitverbeitete Ansicht, wir würden uns "durch die Zeit bewegen wie ein Schiff durch das Meer", hat für ihn keinen Platz mehr im modernen Weltbild. Skow akzeptiert die Zeit nur in gefrorenem Zustand. Und Physiker wie Vesselin Petkov von der Concordia University in Montreal stimmen ihm zu.

Ist die verrinnende Zeit also nur eine Illusion? Das geht so manchem in der Wissenschaftsgemeinde zu weit. Renato Renner gesteht zwar zu, dass Einsteins Leinwand das Hier und Jetzt nicht definiert – und auch über den Zeitfluss keine Aussage trifft. "Wenn eine Theorie dazu nichts zu sagen hat, heißt das noch lange nicht, dass es so etwas nicht gibt. Ich halte es für gefährlich, unsere Wahrnehmung als Illusion zu bezeichnen."

Die Installation "Zeitfeld" im Düsseldorfer Volkspark wurde vom Künstler Klaus Rinke geschaffen.
Foto: Imago / Revierfoto

Rettungsversuche

Ähnlich sieht das Carlo Rovelli. Er zieht aus der Debatte den Schluss, dass Zeit viel komplizierter ist, als wir bisher gedacht haben. "Der Unterschied zwischen Zukunft und Vergangenheit mag nicht fundamental sein. Aber lokal, für mich, gibt es ihn. So wie die Katze in meinem Zimmer: Sie ist auch nicht fundamental und existiert trotzdem."

So haben denn Physiker schon diverse Versuche unternommen, dem in Ewigkeit erstarrten Blockuniversum wieder so etwas wie Geschichte einzuhauchen. Der Theoretiker Tim Koslowksi glaubt etwa, dass allein die Gravitation dazu geeignet sei, den Zeitfluss zu reanimieren. Rovelli will Ähnliches mithilfe der Wärmelehre erreichen und arbeitet an einer relativistischen Thermodynamik. Der Südafrikaner George Ellis bastelt wiederum mithilfe der Quantentheorie an einer "evolutionären" Variante des Blockuniversums.

Das hält auch Renner für einen guten Ansatz. Gleichwohl stieß der Physiker von der ETH Zürich bei seinen Forschungen auf einen Effekt, der die ohnehin schon schwer überschaubare Debatte noch komplizierter macht.

Vergangenheit zerbröselt

Renner wies vor zwei Jahren nach, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit mithilfe der Quantentheorie – jedenfalls im Gedankenexperiment – zu grundlegenden Widersprüchen führen kann. "Wenn man zwei Quantenphysiker zu einem vergangenen Münzwurf befragt, dann kann es vorkommen, dass der eine 'Kopf' sagt und der andere 'Zahl', obwohl beide keine Fehler begangen haben.

Wir würden heutzutage sagen: Das sind alternative Fakten." Zerbröselt nun die Vergangenheit bei dem Versuch, den Zeitpfeil zu retten? Renner glaubt das nicht – und sieht derlei Widersprüche als Wegweiser für sich und seine Kollegen. Für die Entwicklung einer Theorie der Quantengravitation, die endlich das letzte Wort über die Zeit spricht.

Dass bei einem derart grundlegenden Problem noch keine Einigkeit erzielt wurde, mag zunächst verwundern. Die nicht zu leugnende Vielstimmigkeit habe wohl auch mit der Natur der Fragestellung zu tun, betont der Wiener Gravitationsphysiker Peter Christian Aichelburg. "Die Physik befasst sich nicht mit den Dingen an sich. Sondern nur damit, wie sich die Dinge zueinander verhalten. Macht es einen Unterschied, ob ich an das Blockuniversum glaube? In der alltäglichen Forschung eher nicht. "

Der Physiker Richard Muller hat ein Buch über die Physik der Zeit geschrieben, das kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen ist: "Jetzt: Die Physik der Zeit" (Fischer Verlag, 2018).
UC Berkeley

Über die Kante denken

Man könnte es auch so formulieren: Zeit als Größe in Modellen zu behandeln ist eine Sache. Zu fragen "Was ist Zeit?" ist aber etwas ganz anderes, nämlich ein philosophisches Problem. Violetta Waibel, Expertin für die Philosophie der Zeit an der Universität Wien, beruft sich in dieser Angelegenheit auf Immanuel Kant. Der Königsberger Aufklärer wies anno 1781 nach, dass die Zeit dem Denken vorausgesetzt ist. Als "Anschauungsform", als Ordnungskategorie, die wir selbst in die Welt hineinlegen.

So ist es vielleicht keine Überraschung, dass die Physiker an intellektuellen Verrenkungen laborieren, wenn sie so tun, als könnten sie von außen – jenseits der Zeit – auf das Universum blicken. Diese Übung erinnert Waibel an eine religiöse Imagination, das allessehende Gottesauge: "Die Wahrnehmung ist für uns immer zeitlich strukturiert. Wir können nicht über die Kante hinüberdenken."

Aichelburg nimmt diesen Befund mit einiger Gelassenheit. Und wandelt auf den Spuren von Augustinus: "Wenn ich wüsste, was Zeit ist, dann wäre ich berühmt." (Robert Czepel, 15.9.2018)