Schon bevor sie 2013 erschienen war, sorgte sie für Zündstoff: die fünfte Version der amerikanischen Diagnosebibel der Psychiatrie, das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (DSM). Es würden immer mehr Krankheiten aufgenommen und bereits vorhandene Kriterien so weit aufgeweicht – etwa bei ADHS -, dass die Grenzen zwischen "geistig gesund" und "krank" immer weiter verschwimmen, so Kritiker. Vor allem der amerikanische Psychiater Allen Frances führte einen regelrechten Feldzug gegen DSM-5.

In den USA ist es im privaten Gesundheitssektor schon länger üblich, zum Psychiater oder zum Psychotherapeuten zu gehen.
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Das DSM bildet die Grundlage für die Diagnosen in den USA. Wollen hingegen Psychiater in Europa eine Diagnose stellen, greifen sie auf die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) zurück. Kürzlich hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach 26 Jahren eine neue Version veröffentlicht. Die ICD-11 soll im nächsten Jahr auf der Weltgesundheitsversammlung verabschiedet und offiziell ab Jänner 2022 gelten.

Das Diagnosehandbuch enthält auch einen großen Abschnitt über psychische Störungen und steht unter dem Einfluss des amerikanischen Handbuchs. Muss man also befürchten, dass Europa eine Diagnoseinflation bei psychischen Erkrankungen droht?

Trauer als Depression

Ein Stein des Anstoßes im Vorfeld des Erscheinens des amerikanischen Handbuchs war die Möglichkeit, eine mehr als zwei Wochen andauernde tiefe Trauer als Depression zu diagnostizieren. Normale Trauerreaktionen würden auf diesem Weg pathologisiert, lautete die Kritik.

"Vor dem DSM-5 war es so", sagt Johannes Wancata, Professor für Sozialpsychiatrie an der Med-Uni Wien: "Wenn jemand alle Kriterien einer schweren Depression erfüllt hat, aber innerhalb der letzten beiden Monate einen Trauerfall hatte, so galt dies als Ausschließungsgrund." Eine Depression konnte demzufolge nicht diagnostiziert werden, wenn sich die Symptome durch eine Trauerreaktion erklären ließen.

"Dieses Ausschließungskriterium der Trauer hat man im DSM-5 gestrichen." Das bedeutet, dass Trauernde nun gemäß für eine schwere Depression bereits zwei Wochen nach dem Tod einer nahestehenden Person eine Depressionsdiagnose erhalten können.

Bandbreite von Depression

Um zu sehen, ob im Zuge des DSM-5 eine Diagnoseinflation bei der Depression droht, hat sich Johannes Wancata einen Datensatz aus einer seiner Studien angeschaut. Und hier hätte sich mit den Kriterien von DSM-5 nur marginal etwas verändert. Denn nur bei einem von 1000 Patienten zusätzlich würde die Diagnose einer schweren Depression vergeben werden. "Die vor der Veröffentlichung des DSM-5 geäußerte Vermutung, die Rate der Depressionsdiagnosen würde sprunghaft ansteigen, war also nicht sehr realistisch."

In der nun neu veröffentlichten ICD-11 hat man für die Trauer eine andere Lösung gefunden und die Diagnose "Anhaltende Trauerreaktion" eingeführt. "Sie fordert für die verlängerte Trauerreaktion ein definiertes Bild schwerer psychischer Beeinträchtigung nach mindestens sechs Monaten", sagt Wolfgang Gaebel, Psychiater und ehemaliger ärztlicher Direktor des LVR-Klinikum Düsseldorf. Er hat sowohl am DSM-5 als auch an der ICD-11 mitgearbeitet.

Gaebel verteidigt die neue Diagnosemöglichkeit. Wenn jemand im Rahmen einer Trauerreaktion nach einem Todesfall eine ausgeprägte depressionsartige psychische Störung entwickle und aufgrund einer solchen Diagnose eine hilfreiche therapeutische Unterstützung erfahren könne: "Wo wäre denn hier das Problem?"

"Milde Störung"

Gaebel rechtfertigt aber auch noch eine andere umstrittene Diagnose. Im Alter schwinden bekanntlich die geistigen Fähigkeiten. Besonders das Gedächtnis lässt nach. Stärker ausfallende Leistungseinschränkungen lassen sich nun in Zukunft als "milde neurokognitive Störung" diagnostizieren.

Die ICD-11 folgt hier dem Beispiel des amerikanischen DSM. Die Idee dahinter: Es könnte sich in solchen Fällen um ein Vorstadium einer Demenz handeln, der man im Zuge einer Diagnose präventiv begegnen könnte. "Das ergibt Möglichkeiten einer besseren Verlaufsüberwachung, adäquateren Versorgung entsprechender vorhandener Möglichkeiten sowie weiterer Therapieentwicklung und künftig zielgerichteter Behandlung und Prävention", sagt Wolfgang Gaebel.

Johannes Wancata sieht das anders: "Die Idee, auf diesem Weg Frühstadien einer Demenz zu erkennen, um damit das Auftreten des Vollbilds der Erkrankung vorzubeugen, ist grundsätzlich nicht schlecht." Doch bisher gebe es keine Hinweise, dass dies gelingen kann.

Diagnosen aufgeweicht

Ähnlich äußert sich auch die Psychiaterin Christa Rados, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik: "Eine leichte kognitive Störung ist nach derzeitigem Wissenstand nicht zwingend ein Frühstadium einer Demenz."

Trotz einiger im Detail strittiger Punkte: Eine echte Diagnoseinflation wird wohl so oder so nicht drohen. Die Warnungen davor waren schon in Bezug auf das amerikanische Diagnosehandbuch ein wenig übertrieben. "Die Befürchtungen, die psychiatrischen Diagnosen würden durch DSM-5 aufgeweicht und gesundes Verhalten würde pathologisiert, haben sich aus heutiger Sicht nicht bewahrheitet", sagt Christa Rados.

Die damalige mediale Vermutung, es stünden vordringlich Interessen der Pharmaindustrie dahinter und Psychiater würden Krankheiten "erfinden", hätten sie und andere Psychiater immer ein wenig absurd gefunden. "Es gibt schließlich mehr als genug Krankheitsbilder in unserem Fachgebiet. Und wir sind ausreichend damit beschäftigt, alle Patienten gut versorgen zu können."

Psychopharmaka oder Psychotherapie

Zudem liegen in psychiatrischer Hinsicht immer noch Welten zwischen den USA und Europa. In den Vereinigten Staaten hat die Psychiatrie und insbesondere die Psychotherapie einen ganz anderen Stellenwert. Zumindest im privaten Gesundheitssektor ist es dort schon länger üblich, zum Psychiater oder zum Psychotherapeuten zu gehen.

Das schlägt sich auch in den Verschreibungszahlen von Psychopharmaka, etwa von Antidepressiva, nieder. Mittlerweile greifen rund 13 Prozent aller US-Amerikaner, die zwölf Jahre alt oder älter sind, zu Pillen.

Einer der Gründe für die hohen Zahlen: In USA ist anders als in Europa bei den Verbrauchern die Direktwerbung für rezeptpflichtige Arzneimittel erlaubt. Seit 1997 ist zusätzlich die Fernsehwerbung freigegeben. Auf diesem Weg können die Pharmafirmen selbst die Bevölkerungsgruppen erreichen, die keine Printmedien nutzen. In den ersten drei Jahren nach der Freigabe stiegen die Umsätze für Psychopharmaka um das Zweieinhalbfache.

In Europa tabuisiert

In Europa ist die Situation anders. "Hier ist die Psychiatrie bis heute tabuisiert", erklärt Christa Rados, "das scheint sich aber allmählich zu ändern und schlägt sich auch in der Behandlung nieder." Die Verschreibungszahlen von Antidepressiva hat in Europa ebenfalls in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen, aber auf niedrigerem Niveau. In Deutschland etwa kletterte einer OECD-Statistik von 2015 zufolge die Zahl der Verschreibungen von Antidepressiva von 20 Tagesdosen je 1000 Einwohner im Jahr 2000 auf 53 Tagesdosen im Jahr 2013.

In den steigenden Verschreibungszahlen sieht Christa Rados allerdings eher keinen Grund zur Sorge. Schließlich seien die Krankheiten, bei denen Antidepressiva indiziert sind – vor allem Angststörungen und Depressionen -, in der Bevölkerung überaus verbreitet. Vielmehr gebe es bei den Erkrankungen nach wie vor ein therapeutisches Defizit – vor allem wenn man auch ein gewisses Maß an Fehlverschreibungen miteinkalkuliere: "Etwa wenn beispielsweise Menschen in schwierigen Lebensumständen, aber ohne depressive Erkrankung Antidepressiva verschrieben bekommen in der meist falschen Hoffnung, ihre Stimmung würde sich dadurch verbessern."

Gravierender Mangel

Hier sei besondere Expertise gefragt. "Leider besteht vor allem abseits der Ballungszentren ein gravierender Mangel an psychiatrischen Fachärzten, die gerade bei schwierigen Differenzialdiagnosen und in komplexen Fällen zurate gezogen werden sollten."

Folgt man dieser Einschätzung, droht den Staaten in Europa insgesamt keine Diagnoseinflation. Steigende Diagnosen und Behandlungen wären – teilweise zumindest – eher Ausdruck eines gewissen Nachholbedarfs. (Christian Wolf, CURE, 17.11.2018)