Die Zuckerwelle rollt an: In den vergangenen 25 Jahren ist der Verbrauch des Süßmachers um 73 Prozent gestiegen.

Foto: Lukas Friesenbichler

Der deutsche Arzt und TV-Moderator Eckart von Hirschhausen hat eine Mission, die vielen nicht schmecken wird: Im Mai 2018 forderte er in einem offenen Brief an Angela Merkel die Einführung der Zuckersteuer. 2000 Ärzte schlossen sich seinem Appell an. Die Fakten scheinen ihm recht zu geben: Deutschlands Nachwuchs wird immer dicker, laut Daten des Robert-Koch-Instituts sind 800.000 Kinder und Jugendliche adipös – doppelt so viele wie in den 1990er-Jahren.

Die Folge: Selbst junge Menschen erkranken an der Stoffwechselstörung Diabetes Typ 2, die normalerweise erst im höheren Alter auftritt. Auch dazu gibt es Zahlen: 15 von 1000 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sind davon betroffen. Mit diesen Problemen ist Deutschland nicht allein – Portugal, Malta, Ungarn, Slowenien, Spanien oder Österreich haben ähnlich schwerwiegende Sorgen.

Auch die Weltgesundheitsorganisation nimmt verstärkt den industriell hergestellten Zucker ins Visier. Im März 2015 senkte sie die empfohlene Tagesmenge für Erwachsene von 50 auf 25 Gramm. Keine Rolle spielt hingegen die natürliche Süße in Obst, Gemüse und Milch, wie die Experten betonten. Etwa eineinhalb Jahre später sprach sich die WHO für die Einführung einer 20-prozentigen "Sündensteuer" auf zuckerhaltige Getränke aus. Die Logik dahinter: Zucker verursacht die Zuckerkrankheit, das sagt allein schon der Name. Klingt plausibel, doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn Kausalzusammenhänge sind in der Ernährungswissenschaft rar.

Hunger nach Süßem

"Es ist unseriös, nur einen Faktor für Übergewicht oder Adipositas und damit als Hauptrisiko für Diabetes Typ 2 verantwortlich zu machen. Der Zuckerkonsum kann eine Rolle spielen, aber sicher nicht die einzige", betont Jürgen König, Leiter des Instituts für Ernährungswissenschaften der Uni Wien.

Unbestritten ist: Der Mensch mag gern Süßes, vor allem das Gehirn benötigt Zucker als Energiequelle. An sich kommt der Körper völlig ohne Saccharose aus, denn er kann die Stärke aus Erdäpfeln oder Getreide in Glukose, also Traubenzucker, umwandeln. "Selbst Proteine werden bei Bedarf in Zucker umgebaut", sagt König.

Bis ins 19. Jahrhundert war Honig der Süßmacher Nummer eins, erst mit der industriellen Gewinnung von Saccharose aus Zuckerrüben und Zuckerrohr änderte sich das. Der Hunger nach Süßem stieg. Mittlerweile hat die Produktion des Geschmacksträgers, der Fertigprodukte länger haltbar macht und für die richtige Konsistenz sorgt, ein Ausmaß wie nie zuvor erreicht. So wurden 2017 rund 194 Millionen Tonnen produziert, 25 Jahre zuvor waren es noch 82 Millionen Tonnen weniger. Das bedeutet ein Anstieg von 73 Prozent innerhalb einer Generation.

Zuckerarme Mogelpackungen

Den größten Appetit auf Zucker hat die Lebensmittelindustrie, die etwa 60 Prozent des Gesamtvolumens in Softdrinks, Saucen, Fertigpizzen, Milchprodukten, Aufstrichen, Müsli, Back- und Süßwaren versteckt. Selbst Wurst und Schinken werden damit geschmacklich aufgepeppt.

Doch der Handel reagiert auf die lauter werdende Kritik. So erklärte die Supermarktkette Spar 2017 zum "Jahr der Zuckerreduktion" und verkündete, den Zuckergehalt in Eigenmarken sukzessive reduzieren zu wollen – angefangen von Müsli und Cornflakes über Joghurt bis hin zu Apfelmus und Limonaden. "Wir wollen unsere Kunden langsam an weniger süße Produkte gewöhnen", erklärte Spar-Chef Gerhard Drexel. Für Limonaden erfolgte etwa eine Zuckerreduktion in Höhe von zehn Prozent. Ein Liter Spar-Cola enthält nun statt 105 Gramm rund 95 Gramm Zucker, also rund 32 Stück Würfelzucker. Rund 18 Monate später hat sich daran nichts geändert, der Plan wird tatsächlich nur sehr langsam umgesetzt.

Auch der deutsche Lebensmittelhändler Rewe findet neuerdings Geschmack am Motto "Weniger ist Mehr". Im Juli 2018 präsentierte er stolz sein erstes Produkt in den Merkur-Filialen, das im Geschmackstest zum Kundensieger gekürt wurde: ein um 30 Prozent zuckerreduzierter Schokopudding. Klingt vernünftig, doch Lebensmittelexperte Jürgen König empfiehlt, bei solchen werbewirksamen Botschaften immer genauer hinzusehen. "Die Konsumenten sollten auf die Nährwertangaben achten." Der Vergleich mit einem herkömmlichen Konkurrenzprodukt zeigt, dass der von Rewe gekürte zwar um ein Drittel weniger Zucker enthält, der Gesamtenergiegehalt aber trotzdem um 13 Prozent höher ist. Der Grund: Der fehlende Zucker wurde weitgehend durch Fett ersetzt. Schmeckt auch gut, macht aber noch dicker.

Typ-2-Diabetes trotz Normalgewicht

Die Forderung nach einer höheren Besteuerung von zuckerhaltigen Convenience-Produkten wird vor diesem Hintergrund ad absurdum geführt. Für eine Produktgruppe scheint sie aber gerechtfertigt zu sein: zuckerhaltige Limonaden. Dass ein hoher Konsum von Cola, Fanta und Co dickmacht, gilt als erwiesen. Gezuckerte Softdrinks sättigen nicht, besitzen aber einen extrem hohen Energiewert.

"Das hat die Evolution so nie vorgesehen, der menschliche Organismus ist damit überfordert", meint Hans Hauner, Ernährungsmediziner an der Uniklinik München. Denn der einzige Faktor, der darüber bestimmt, ob ein Mensch normal-, unter- oder übergewichtig ist, bleibt die Energiebilanz. "Wir scheiden überflüssige Energie nicht aus, sondern speichern sie als Fett. Nur so überlebte der Mensch längere Zeiten des Mangels", ergänzt Clemens Röhrl vom Institut für Medizinische Chemie der Uni Wien.

Hochkalorische Softdrinks lassen nicht nur den Bauchumfang wachsen, sondern bergen noch ein weiteres Gesundheitsrisiko: In zwei systematischen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen wurde nachgewiesen, dass der tägliche Konsum gezuckerter Limonaden über viele Jahre hinweg selbst unter Normalgewichtigen Diabetes Typ 2 auslösen kann. Der gemessene Effekt ist mit etwa drei Prozent der Erkrankungen zwar relativ klein, bei geschätzten 380 Millionen Betroffenen weltweit sind das aber immerhin 11,4 Millionen Fälle.

Notfallpatient Mexiko

Das Land, in dem weltweit am meisten Limonaden getrunken werden, ist Mexiko. Im Schnitt 163 Liter pro Jahr. Das sind knapp ein halber Liter und rund 50 Gramm Zucker täglich pro Kopf, die doppelte Menge, die von der WHO propagiert wird. Ein Drittel der Bevölkerung leidet an Adipositas, 37 Prozent haben Übergewicht.

Im Jahr 2014 zog die mexikanische Regierung die Notbremse. Werbung für ungesundes Essen im Kinderfernsehen wurde verboten, der Preis für kalorienreiche Lebensmittel um acht Prozent angehoben, und für gezuckerte Softdrinks wurde eine Sondersteuer von etwa zehn Prozent eingeführt.

Forschern der University of North Carolina und des mexikanischen National Institute of Public Health zufolge hatte die Gesetzesänderung einen messbaren Effekt: Im ersten Jahr nach der Einführung reduzierte sich der Konsum von Limonaden um rund sechs Prozent, weitere zwölf Monate später um knapp zehn Prozent. Das entspricht insgesamt einer Reduktion von 65 Millilitern täglich.

Gleichzeitig stieg der Absatz von Mineralwasser um vier Prozent an. In der EU haben sich Frankreich, Ungarn, Belgien, Großbritannien und Irland für einen ähnlichen Weg entschieden und eine "Strafsteuer" auf Softdrinks eingeführt. Kritiker bemängeln, dass eine einzelne Maßnahme zu wenig sei, um die steigenden Übergewichts- und Adipositasraten in den Griff zu bekommen. "Die Wirkung ist bescheiden. Wir konsumieren schlicht von allem zu viel, das Zucker, Fett und Kohlenhydrate enthält", sagt Ernährungswissenschafter König.

Langlebiges Italien

Doch gibt es eine Ernährung, die schmeckt, gesund ist und sich auch leicht umsetzen lässt? Die Ernährungswissenschaft kann dazu zwar keine evidenzbasierte Empfehlung anbieten, hat aber zumindest Vermutungen. Der "Bloomberg Global Health Index", in dem 163 Länder nach dem Gesundheitszustand der Bevölkerung bewertet wurden, kürte im Vorjahr die Italiener zur gesündesten Nation. Mit im Schnitt 83,4 Jahren sind sie auch jene Europäer, die am längsten leben.

Welchen Einfluss die mediterrane Küche darauf hat, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Mehrere klinische Studien geben aber zumindest Hinweise darauf, dass Olivenöl, Nüsse, Fisch, frisches Gemüse und Obst regelmäßig auf der Einkaufsliste stehen sollten. So konnte etwa in einer spanischen Untersuchung mit rund 7.500 Probanden, die von Diabetes oder Bluthochdruck betroffen waren, gezeigt werden, dass jene Patienten, die auf Mittelmeerkost umgestiegen waren, deutlich seltener Schlaganfälle und Herzinfarkte erlitten als die Kontrollgruppe.

Das Fazit der Forscher: Allein die Ernährungsumstellung senkte das Infarktrisiko um 30 Prozent. Doch auch hier gilt das Prinzip der Energiebilanz. Sie ist schließlich keine Hypothese, sondern ein Naturgesetz. (Günther Brandstetter, CURE, 29.8.2018)