Schon länger gibt es Stimmen, die vor einem Einsturz der Brücke in Genua gewarnt haben.

Foto: APA/AFP/VALERY HACHE

"Prima o poi verrà giù tutto", früher oder später kommt das alles runter. Die Ursachen sind ungeklärt, es wird lange dauern festzustellen, ob individuelle Schuld besteht, ob konkrete Versäumnisse zu verantworten sind. Aber die Tragödie von Genua war angekündigt, das ist der Tenor fast aller Kommentare und Berichte in den Tagen danach. Die Medien sind voll von Warnungen aus den letzten Jahren, sogar Jahrzehnten. "Jedes Mal, wenn ich auf die Brücke fuhr, hatte ich den Eindruck, mich auf einen fliegenden Teppich zu begeben", beginnt ein Artikel in "La Repubblica".

Als Bürgerin eines Landes, das beim Reichsbrückeneinsturz am 1. August 1976 in Wien nur durch die frühe Morgenstunde vor einer ähnlichen Katastrophe bewahrt wurde, sollte man vorsichtig sein. Als jemand, der ein paar Jahre in Italien gelebt hat und immer noch einen – sehr glücklichen – Monat jährlich dort verbringt, stimmt man jedoch in den Aufschrei vieler Italiener und Italienerinnen ein: Genua ist nur ein Symptom. Das Land geht vor die Hunde.

Die Morandi-Brücke in Genua mag ein spezieller Fall sein, aber der allgemeine Verfall der Infrastruktur in Italien ist nicht zu leugnen – und steht für etwas Tiefergehendes. Italien verfällt nicht, es wird verfallen gelassen, von einer seltsamen Allianz öffentlicher und privater Gleichgültigkeit. In den italienischen Medien wird dieser ethische Verfall analysiert und kommentiert: jedes Jahr mit größerer Verzweiflung.

Weder der Staat noch seine Bürger glauben an das Gemeinsame, das Gemeinwohl, das gemeinsame Gut, das gepflegt und erhalten werden muss. Die Müllhaufen an den Straßenrändern sind ein Symbol dieser geteilten Gleichgültigkeit: Der Bürger schmeißt seinen Mist irgendwo hin, und die Behörden lassen ihn dort liegen.

Nicht alle und nicht überall

Natürlich sind nicht alle so und ist es nicht überall so. Wenn man sich nicht auf den Staat, auf Rom, verlassen kann, kann man auf lokaler Ebene vieles gutmachen, und das passiert ja auch ständig. Darum ist die Situation je nach Region und Stadt oder sogar Stadtteil sehr unterschiedlich. Der Norden ist überhaupt anders, heißt es immer wieder. Ja, und die Lega Nord, die ihn einst abspalten wollte, gewinnt heute im Süden vor allem dort, wo die Mafia stark ist. Was immer das heißen mag.

Die Mafia ist ja selbst sowohl Ursache als auch Auswuchs eines schwachen Staates, der Platz für andere Strukturen macht. Sie baut ihre eigenen Autobahnen wie – laut Vox Populi – die Palermo–Agrigento, auf der 2015 eine Brücke schon sechs Tage nach der Eröffnung einbrach. "Was wollt ihr, jetzt gibt es eine neue Ausschreibung für die Reparatur, na, wer wird die wohl gewinnen?", höhnt ein Poster unter einem entsprechenden Online-Artikel einer sizilianischen Lokalzeitung.

Aber nicht immer findet die Gefährdung von Leben auf so spektakuläre Weise statt wie durch einstürzende Brücken. Meist geschieht dies leise – und alltäglich.

Ein Beispiel: Der Zustand des großen Teils des italienischen Kanalnetzes bringt es mit sich, dass bei starkem Regen manche Straßenunterführungen schnell überschwemmt sind. Sehr schnell. Abhilfe wird geschaffen, zum Beispiel indem eine Ampel aufgestellt wird, die sich im Falle des Falles auf Rot schaltet. In Ancona Mitte Juni war eine solche Ampel jedoch kaputt. Diese Geschichte geht glücklich aus: Den beiden Frauen, die in ihrem Auto unter der Brücke festsaßen, stand das Wasser zwar schon bis zum Hals, sie wurden jedoch gerettet.

Noch viel banaler – aber regelmäßig – kommt der Tod etwa auf der Via Cristoforo Colombo, der 27 Kilometer langen Verbindung vom Zentrum Roms nach Ostia.

Angst vor einer Straße

"Sie macht Angst", heißt es in einem Artikel in La Repubblica, ebenfalls im Juni, über die Straße. 47 Unfälle im Monat, etwa alle hundert Meter gibt es etwas, das so einen Unfall verursachen kann, vor allem Löcher und Baumwurzeln, manchmal auch misslungene Reparaturen. An die Geschwindigkeitsbeschränkungen hält sich keiner, die sind nur für Feiglinge. Wenn man bei verordneten 50 Stundenkilometern 80 fährt, wird man als Kriecher beflegelt, vor allem wenn man ein nichtitalienisches Kennzeichen hat.

Ausflug zu den Castelli Romani, Heimfahrt zum Wohnort an der Küste auf einer vom Navi empfohlenen Route. Irgendwann macht sich im Auto Fassungslosigkeit breit. Man ist auf einer (durchaus befahrenen) Überlandstraße gelandet, wo die Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 einer Aufforderung zum Selbstmord gleichkommt. Diesmal halten sich sogar die Italiener dran.

Ja, alles furchtbar banal. Aber wer dort lebt, wer etwa in einem Viertel von Rom wohnt, wo der öffentliche Verkehr dem Zufallsprinzip gehorcht (woanders funktioniert er dann wieder sehr gut), wer auf die öffentliche Gesundheitsversorgung angewiesen ist (die es in der Ausprägung höchster Exzellenz bis zur Spitalspatientin, die beinahe von Ameisen aufgefressen wird, gibt), der ist nach ein paar Jahren sehr müde. Vielleicht will er dann glauben, was Innenminister Matteo Salvini sagt: dass die EU schuld ist.

Was im Juni noch geschah? "L'ennesimo crollo", der "x-te Einsturz" eines Teils der Aurelianischen Mauer in Rom. Mit den gefährdeten Kulturgütern will man angesichts des Verlusts von Menschenleben gar nicht anfangen. Ach ja, das tiefe Loch am Bahnhof unseres kleinen (nicht sehr touristischen) Urlaubsorts, das anfangs nur mit einer, später mit zwei Bierkisten abgesichert war, wurde immerhin doch noch tadellos repariert. Es waren gerade Gemeinderatswahlen. (Gudrun Harrer, 16.8.2018)