Der Prager Frühling war ein Sprung ins Ungewisse. Das Bild von KP-Chef Alexander Dubček beim Sprung vom Dreimeterbrett wurde zum Symbol seiner Volksnähe.

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"Unbefugten ist der Eintritt streng verboten": Protest gegen die Besatzer.

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Ein sowjetischer Panzer in der Nähe des Prager Funkhauses.

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An der Stelle, an der sich der Student Jan Palach aus Protest gegen die Besatzer mit Benzin übergoss und anzündete, wölbt sich heute ein unscheinbares Relief in Form eines Kreuzes aus dem Boden. Ein paar trockene Blumen liegen dort, am oberen Ende des Prager Wenzelsplatzes, eingekeilt zwischen der Stadtautobahn und dem Bauzaun vor dem tschechischen Nationalmuseum, das gerade renoviert wird. Ein paar Schritte die Vinohradská-Straße hinauf, vor dem Prager Funkhaus, wird man am Dienstag wieder Kränze niederlegen für all jene, die bei der Invasion durch die Warschauer-Pakt-Staaten ihr Leben verloren – viele davon beim Versuch, den Tschechoslowakischen Rundfunk gegen die Okkupanten zu verteidigen.

Wer an den Prager Frühling denkt, denkt in der Regel zunächst an dessen Ende, an Panzer in den Straßen, an Armeeflugzeuge am Himmel. Die Bilder der Invasion in den Morgenstunden des 21. August 1968 sind zu Ikonen der nationalen Enttäuschung geworden. Dazu kommen die medial vielfach reproduzierten Erinnerungen an Nachbarn, die mitten in der Nacht an der Tür klingeln, an Anrufe besorgter Verwandter, an das Transistorradio auf dem Campingplatz.

Die Botschaft ist stets dieselbe: Wir werden überfallen. "Lasst euch nicht provozieren", sagt der Nachrichtensprecher im Funkhaus, das noch nicht in der Hand der Besatzer ist. Blutvergießen soll vermieden werden.

Zahlreiche Romane haben diese Motive aufgegriffen. Bekanntestes Beispiel: "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" von Milan Kundera, erschienen 1984 im französischen Exil des Autors. Doch auch nach der Samtenen Revolution des Jahres 1989 und dem Ende der kommunistischen Diktatur in der Tschechoslowakei ist die Niederschlagung des Prager Frühlings als individuell durchexerziertes Trauma der Nation ein gern benutzter Stoff.

Rückzug ins Private

In "Blendende Jahre für Hunde", dem Erfolgsroman von Michal Viewegh aus dem Jahr 1992, macht sich der kleine Kvido am Morgen des Einmarsches auf, um mit seinem Opa Zettel an Bushaltestellen zu kleben. Unwillkürlich denkt man an all die Botschaften an Hauswänden, in denen die Besatzer wortgewaltig zum Teufel geschickt wurden. Auf Kvidos Zettel aber steht, dass seine Wellensittiche entflogen sind.

Das ist nicht nur eine gute Portion jenes Humors, mit dem Tschechen gern den eigenen Alltagspragmatismus aufs Korn nehmen, sondern vor allem eine Vorwegnahme dessen, was nach dem Prager Frühling – zur Zeit der sogenannten "Normalisierung" – die Atmosphäre im Land prägen sollte: die erzwungene Abkehr von der eben erst aufgeblühten Diskurskultur und der desillusionierte Rückzug ins Privatleben.

Auch nach 50 Jahren drohen die Ereignisse des 21. August 1968 den eigentlichen Prager Frühling immer wieder aufs Neue auszulöschen. "Umfragen zeigen, dass viele junge Menschen die Bilder von damals kennen", sagt der Historiker Martin Franc von der tschechischen Akademie der Wissenschaften im Gespräch mit dem STANDARD. "Das allein führt aber noch nicht zu einem tieferen historischen Bewusstsein über Bedeutung und Zusammenhänge."

Dabei ist auch der politische Hintergrund des Prager Frühlings detailreich erforscht: seine Vorgeschichte während der Entstalinisierung in der Sowjetunion der Ära Chruschtschow; die Spannungen zwischen dogmatischen und reformfreundlichen Kräften in der tschechoslowakischen KP; der Führungswechsel im Jänner 1968, als der Reformer Alexander Dubček vom Zentralkomitee zum Parteichef gekürt wurde; die Wirtschaftsreformen des Ökonomen und stellvertretenden Ministerpräsidenten Ota Šik, der Alternativen zur bürokratischen Planwirtschaft aufzeigte; die Wiederherstellung von Meinungsfreiheit und die Abschaffung der Zensur im Juni 1968.

Alltagskultur im Aufbruch

Die Aufbruchsstimmung schlug sich aber auch in der Kultur des Alltags nieder, in Mode und Musik, in den Codes des erwachten Reformgeistes. Besteht hier eine Parallele zu den gleichzeitigen Reformbewegungen des Westens? In gewissem Sinne ja, meint Martin Franc.

Den zentralen Unterschied aber sieht er in der Beziehung zum Konsum: "Die Reformen des Prager Frühlings sollten auch eine Anhebung des Konsumniveaus bringen, die Schaffung einer Konsumgesellschaft innerhalb des sozialistischen Systems."

In Westeuropa hingegen waren die Reformbewegungen vor allem konsumkritisch. Dabei transportierten zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gleiche Codes unterschiedliche Bedeutungen, erklärt der Historiker Franc: "Jeans etwa, im Westen Ausdruck einer jugendlichen Subkultur, waren hier ein westliches Luxusprodukt – und durften deshalb an vielen Schulen nicht getragen werden."

Im Gegensatz zu den politischen Reformen, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wieder zurückgenommen wurden, setzte sich die Übertragung von Elementen der westlichen Konsumgesellschaft nach 1968 fort – auch aus handfesten juristischen und wirtschaftlichen Gründen.

Viele neue Lizenzverträge wurden laut Franc erst in den 1970er-Jahren realisiert: Dazu gehört etwa der Bau des Hotels Intercontinental in Prag, das 1974 eröffnet wurde. Auch die Lizenz zur Herstellung von Coca-Cola wurde nicht aufgelöst.

1968 versus 1989

Ideologische Kontinuitäten scheinen sich aus dem Prager Frühling aber kaum abzuleiten. Im Gegenteil: Nach der Samtenen Revolution des Jahres 1989 hatten es die neuen Eliten, insbesondere die tonangebenden Wirtschaftsliberalen rund um den späteren tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus, eilig mit der Distanzierung von jenen, die damals von einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" geträumt hatten.

Das Jahr 1989 wurde und wird auf diese Art zur Antithese von 1968 stilisiert. Dennoch: Wer am Prager Frühling teilgenommen hatte, "konnte nicht mehr annehmen, dass diktatorische Ordnungen für die Ewigkeit gemacht sind", wie der deutsche Historiker Martin Schulze Wessel schreibt. Schon darin besteht sein historisches Verdienst.

Wenn der Prager Frühling heute zum Konflikt zwischen Kommunisten und anderen Kommunisten verkürzt wird, der am 21. August 1968 sein logisches Ende nahm, dann ist es ein bisschen wie mit Kvidos entflogenen – und nie gefundenen – Wellensittichen: Es bleibt die vage Erinnerung an etwas Buntes, dessen Spuren sich im Getöse der Geschichte verlieren. (Gerald Schubert, 20.8.2018)