Zahlreiche Briten unterstützen die Europäische Union und sind gegen den Brexit. Sie suchen nun über Migration eine Möglichkeit, in der EU zu bleiben.

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Es ist, als ob ich wieder eine Heimat verloren habe." Magdalena Williams sitzt an ihrem Wohnzimmertisch und versucht ein Lächeln, das ihr nicht gelingt. Ihre Heimat, das ist zurzeit noch St. Mary Cray im Südosten Londons. Ihre alte Heimat, das war vor über sechzig Jahren das kommunistische Ungarn, aus dem ihre Familie 1956 flüchtete. Da war sie noch ein Kind. Jetzt steht wieder eine Flucht an. Magdalena Williams, eingebürgerte Britin, will ihr Land wegen des bevorstehenden Brexits verlassen. Noch bevor der Brexit Ende März nächsten Jahres erfolgt, soll es losgehen. Ihr Bruder ist bereits da, er wohnt in Österreich. Die 70-Jährige will nun vielleicht nach Passau, um in seiner Nähe zu sein.

Der "Brexodus" von Briten, die ihrem Land den Rücken kehren, hat begonnen. Enttäuscht und besorgt über den Austritt aus der EU, wandern viele auf den Kontinent aus. Noch im Königreich befinden sich laut einer Umfrage der Onlineplattform Stepstone 600.000 auswanderungswillige Briten. Beliebtestes Ziel ist Deutschland, rund dreißig Prozent können sich aber auch vorstellen, nach Frankreich oder Spanien zu gehen. Die nahen Niederlande und das englischsprachige Irland ziehen je rund ein Viertel in Erwägung.

Migrantischer Liebeskummer

Für Magdalena Williams ist die Emigration der ultimative Protest. Bis zum Referendum hatte sie sich als Britin gefühlt. "Ich bewunderte diese offene, tolerante Gesellschaft. Ich wurde angenommen, das ist für mich sehr wichtig als Flüchtling." Aber im Referendumswahlkampf habe sie Erfahrungen gemacht, die ihr die Augen öffneten. Sie hat Anfeindungen erlebt und auch offenen Rassismus. "Es ist nicht mehr das Land, in das ich mich verliebt habe." Ein Neuanfang würde schwer. "Es ist ein Riesenschritt in meinem Alter. Aber hier will ich nicht bleiben."

Die pensionierte Sprachlehrerin hat den Kampf gegen den Brexit zu einem Ganztagsjob gemacht. Sie verbringt täglich fünf, sechs Stunden in den sozialen Medien, um den Widerstand der "Remainer", wie die Brexit-Gegner heißen, zu organisieren.

Trotz aller Abschiedspläne wirkt es so, als ob sie die Hoffnung auf einen EU-Verbleib vielleicht doch nicht ganz aufgegeben hätte. Die Seniorin besucht Info-Abende, sie spricht auf Anti-Brexit-Veranstaltungen, verteilt Flugblätter. Auch bei den Mahnwachen, Demonstrationen und Aufmärschen der Remainer vor dem britischen Regierungssitz in der Downing Street ist sie so oft wie möglich dabei.

Dabei wird vieles in die Schlacht geworfen. Selbst ihre beiden Hunde mit den typisch britischen Namen Bonnie und Biscuit werden eingespannt. Wenn sie auf Demonstrationen gegen den Austritt geht, bekommen die beiden ein blaues Tuch mit gelben Sternen um den Hals gebunden und marschieren mit.

Friedensprojekt EU

Anne Graham und ihr Mann Tony gehören dagegen zu den rund hunderttausend Briten, die nach Schätzung der britischen Statistikbehörde ONS heute schon heute im Ausland leben, sie haben den Schritt zum Brexodus schon vollzogen.

Der 51-Jährige und seine 50-jährige Frau zogen Anfang Mai in die Nähe von Stuttgart, wo Tony als Elektronikingenieur bei Dialog Semiconductor arbeitet. Er hat die deutsche Staatsangehörigkeit über seine Eltern, die für einen anderen Aspekt der britischen Geschichte stehen. Sie waren deutsche Juden aus Hamburg, die im Zuge des Kindertransports 1939 nach England flohen und sich dort einbürgerten. Für Anne und Tony war der Brexit der wichtigste Grund für ihre Auswanderung.

"Die EU hat Krieg in Europa verhindert", meint Anne, "und den Leuten geht es besser, wenn alle zusammenarbeiten. Ich bin entsetzt über den Brexit." Tony sieht vor allem wirtschaftliche Konsequenzen auf die Briten zukommen. "Vom ökonomischen Standpunkt aus könnte es ein Desaster werden. Wir könnten wie Griechenland oder Portugal enden." Ihr Sohn und ihre Tochter, die beide noch in Großbritannien studieren, haben die Auswanderung der Eltern unterstützt. Jetzt konzentrieren sich die Grahams erst einmal darauf, Deutsch zu lernen.

Viele offene Fragen

Sie engagieren sich in einer eigenen Gruppe, die für die Bürgerrechte der britischen Migranten im Ausland streitet. Denn immerhin sind eine ganze Reihe von Fragen noch offen: Wie geht es mit der Freizügigkeit weiter? Werden Berufsqualifikationen anerkannt? Dürfen Familienangehörige nachziehen? Und was ist mit dem Aufenthaltsrecht, wenn man einmal eine Zeitlang das Land verlässt? Bisher gibt es nur wohlwollende Zusicherungen, aber keine rechtssicheren Garantien. Auch wenn sie in einem EU-Land leben, sind sie den Folgen des Brexits noch nicht entkommen. (Jochen Wittmann, 19.8.2018)