Armin Nassehi lehrt nicht nur Sozialwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er kommentiert für linke wie für rechte Institutionen Fragen, die der gesellschaftliche Strukturwandel aufwirft. Sein Integrationserlebnis: "Ich konnte mit Gelsenkirchener Abitur bayerischer Ordinarius werden!"

Armin Nassehi, sozialwissenschaftlicher Denker von Rang, ist der Sohn einer Schwäbin und eines Iraners. Er wurde "mit Gelsenkirchener Abitur" Ordinarius in München.
Foto: Hans Guenther Kaufmann

STANDARD: Sozialdemokratische Politikansätze scheinen zurzeit nicht mehrheitstauglich zu sein. Sie selbst haben angedeutet, dass eine Linke nicht mehr vonnöten ist ...

Nassehi: Dass es eine Linke nicht mehr braucht, ist ein schlimmer Satz. Nun stand dieser Satz am Ende eines Artikels von mir in der Zeit. Dort war der entsprechende Ausdruck mit dem Wort "womöglich" versehen. Dass besagter Satz gleich als Überschrift verwendet wurde, folgte der medialen Logik.

STANDARD: Was bedeutet es überhaupt noch, "links" zu sein?

Nassehi: Ich habe ein Buch geschrieben, in dessen Untertitel behauptet wird, dass rechts und links keine angemessenen Kategorien mehr sind. Das ist in der Rezeption mitunter so angekommen, als ob ich behauptet hätte, dass die beiden Wörter keinen Unterschied markierten. Das ist Unsinn.

STANDARD: Warum ist "die Linke" dann obsolet?

Nassehi: Weil man die Position so, wie man sie zuletzt vorfand, nicht mehr aufrechterhalten kann. Das will ich mit einer These aus meinem 68er-Buch ("Gab es 1968?", Anm.) erläutern. Wenn wir an 1968 denken, dann ist die Frage interessant, was denn das Linke an der Bewegung war. Explizit links waren Kleingruppen in Berlin und Frankfurt, Personen wie Rudi Dutschke, die sich als Revolutionäre verstanden. In Deutschland war das mit der Auflösung des SDS vorüber.

STANDARD: Begann danach nicht erst die Wirkungsgeschichte?

Nassehi: Man kann geradezu von radikalen gesellschaftlichen Wirkungen sprechen. Ich nenne sie "implizit links" und verstehe darunter vor allem Inklusionsschübe. Gruppen, die vorher in der Gesellschaft von Formen der Teilhabe ausgeschlossen gewesen waren, wurden in die Gesellschaft hereingeholt. Die Mittel dazu waren: das Bildungssystem, das Bildungssystem – und das Bildungssystem.

STANDARD: Ein Epochenbruch?

Nassehi: Das Bildungssystem war vordem so aufgebaut, dass es ein Distinktionsmittel war. Mitte der 1960er haben in Deutschland unter zehn Prozent eines Schülerjahrgangs Abitur gemacht. Ende der 1970er waren es schon 30 Prozent, heute sind es 53 Prozent. Das Jahrzehnt zwischen 1970 und 1980 war dasjenige, in dem die meisten Menschen zu beobachten waren, die den ersten akademischen Abschluss in ihrer jeweiligen Familie abgelegt haben.

STANDARD: Eine Erfolgsgeschichte?

Nassehi: Deutschland wurde vollgepflastert mit Universitäten und Fachhochschulen. Man konnte einen Rechtsanspruch auf Bildungsförderung geltend machen. Es wurde intensiv darüber nachgedacht, wie man in ökonomisch stabilen Zeiten die Leute am Reichtum der Gesellschaft teilhaben lässt. Das haben sogar solche politischen Akteure angestrebt, die sich selbst nicht sozialdemokratisch nennen. Das "implizit Linke" hat die Gesellschaft so verändert, dass es zum Teil gar nicht mehr auf die politischen Intentionen ankam. So selbstverständlich war kompensatorische Politik.

STANDARD: Ist die Idee einer umfassenden "Sozialdemokratisierung" in Vergessenheit geraten?

Nassehi: Warum ist dieses Politikmodell standardisiert worden, und warum wird es auf der anderen Seite nicht mehr gewählt? Dass es eine Krise der Sozialdemokratie in Europa gibt, wird man schwerlich leugnen können. Das Bezugsproblem ist schwierig geworden. Kapitalismuskritik heißt, man macht den Kapitalismus für die Desintegration der Gesellschaft verantwortlich. Was heißt nun "Sozialdemokratisierung" der Konflikte? Das Goldene Zeitalter nach 1945 in Europa zeichnete sich dadurch aus, dass es ein Institutionenarrangement gab.

STANDARD: Das, was wir in Österreich Sozialpartnerschaft nennen?

Nassehi: Besagtes Arrangement war in der Lage, die Grundkonflikte abzubilden und gleichzeitig zu befrieden. Die Gewerkschaften waren korporative Akteure, die in der Lage waren, bestimmte Interessen auf den Begriff zu bringen. Und sie brauchten das Gegenüber einer korporatistischen Arbeitgeberseite, um einen Gesprächspartner zu haben. Die Organisationen holten die Menschen in die Gesellschaft herein. Heute leben wir in funktional differenzierten Gesellschaften, deren Bereiche häufig Probleme aufwerfen, deren Logiken nicht zusammenpassen. Im Goldenen Zeitalter war es möglich, diese Logiken aufeinander zu beziehen. Doch die Voraussetzung dafür ist, gelinde gesagt, schwieriger geworden. Das Modell des Wohlfahrtsstaates kann über Steuern reguliert werden, über Versicherungsleistungen, Modelle, die einander letztlich ähneln. Doch das ist die halbe Wahrheit.

STANDARD: Wir sprechen von der Migration?

Nassehi: Der Solidarraum muss begrenzt sein. Letztlich hat sozialdemokratische, also Mitte-links-Politik immer davon profitiert, dass ein latent rechtes Problem immer schon gelöst war. Aus humoriger bayerischer Sicht gesagt: Warum ist uns Mecklenburg-Vorpommern – das ist von unserer Perspektive aus Westpolen! – näher als Portugal? Normativ gesehen gibt es dafür keinen Grund. Nun ist das eine darstellbar, das andere nicht. Ich will nicht über Nationalismus handeln. Ich will als Soziologe beschreiben, dass eine sozialdemokratische Interventionspolitik, wie wir sie kennen, das "rechte" Problem der Zugehörigkeit quasi unsichtbar schon als gelöst voraussetzt.

STANDARD: Daraus resultiert?

Nassehi: Die Rechten sagen: Na, dann lasst uns doch die Grenzen stärker dichtmachen! Die Renationalisierung europäischer Politiken, wie wir sie zurzeit erleben, die Diskussion um den Brexit, um Länder, bei denen man nicht genau weiß, ob sie überhaupt bei Europa bleiben wollen: Dies alles weist den Weg nach rechts. Meine These ist, dass linke Politikformen deshalb unter Druck geraten. Sie können nicht mehr voraussetzen, dass der Solidarraum unhinterfragt bleibt.

STANDARD: Was ist zu tun?

Nassehi: Häufig genug ähnelt die Kapitalismuskritik vieler Linker einem "Posing": zu glauben, dass man den Kapitalismus überwindet, wenn man in der Lage ist, die Staatstätigkeit zu erhöhen. Damit setzt man die Struktur wieder voraus, die vorher dazu geführt hat, dass man die Bändigung des Kapitalismus durch sozialdemokratische Politik im nationalstaatlichen Rahmen nicht mehr voraussetzen kann. Die Wahlkämpfe der Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren haben den wichtigsten Bezugspunkt noch gar nicht aufgeworfen: die Versöhnung von Arbeit und Leben. Früher konnte man sich gegen den diskontinuierlichen Verlauf eines Arbeitslebens versichern. Wir werden es aber von nun an mit Industrien zu haben, die vielleicht – noch – stinkende, rauchende oder dampfende Sachen machen. In denen wird man aber die Kontinuität von Arbeitsleben nicht mehr voraussetzen können. Diese Diskontinuität ist das große Problem. (Ronald Pohl, 19.8.2018)