Drei bekannte prismaartige Formen und dazu die neue (von links): ein Prisma, ein Frustum, ein Prismatoid und ein Scutoid.
Illustration: Lasunncty

Es ist die vielleicht erstaunlichste wissenschaftliche Entdeckung, die der Sommer 2018 bis jetzt zu bieten hatte. Dass Forscher eine neue geometrische Form entdecken, ist schon einmal kein allzu häufiges Ereignis. Noch sehr viel seltener aber kommt es vor, dass man zeitgleich feststellt, dass diese neue geometrische Form in der Natur massenhaft vorkommt – und auch im menschlichen Körper fast überall zu finden ist.

Letzteres kam für die beteiligten Forscher um den spanischen Entwicklungsbiologen Luis Escudero (Uni Sevilla) nicht völlig überraschend, waren sie doch von einer konkreten biologischen Frage ausgegangen – nämlich der, welche Form Epithelzellen haben.

Komplexe Zellpackungen

Diese Zellen sind zum einen die Grundbausteine des sich entwickelnden Lebens und differenzieren sich in immer komplexere Zellverbände aus. Solche ein- oder mehrlagigen Zellschichten bedecken zum anderen aber auch alle möglichen inneren und äußeren Körperoberflächen, bilden also unsere Haut oder kleiden unsere Organe und Blutgefäße aus.

Die Wissenschaft ging davon aus, dass Zellen, die solche flachen Schichten bilden, in Form von Prismen dichtestmöglich gepackt sein dürften. Doch wie ist das bei gekrümmten Flächen und sich ausdifferenzierenden Zellverbänden? Man würde annehmen, dass es sich dabei um eine spezielle Form eines Prismas handeln würde: die eines Frustums, bei dem die einander gegenüberliegenden Flächen ungleich groß sind (siehe die erste Zeile in der folgenden Grafik):

Modelle aus dem Computer ...

Doch Computermodelle, die das interdisziplinäre Team um Escudero erstellte, legten nahe, dass in einigen Fällen eine komplexere Form wahrscheinlicher ist. Die Berechnungen ergaben, dass die Formen solcher Zellen prismatoid sind, aber mit einer speziellen Abweichung. Um möglichst dichte gekrümmte Zellschichten zu bilden, sollten die Zellen auf der einen Seite aus einem Sechseck bestehen, dem gegenüber ein Fünfeck liegt. Ermöglicht wird das durch eine dreieckige Fläche an einer der langen Kanten.

Zwei sich eng aneinanderschmiegende Scutoide. Epithelzellen dürften sich so in vielen Fällen massenweise anordnen. Das Besondere an Scutoiden ist, dass sie bei diesem Aneinanderschmiegen keine Zwischenräume bilden, mithin also maximal raumfüllend sind.
Illustration: Javier Buceta

Escudero war sich trotz der Computermodelle dennoch nicht ganz klar, wie diese Form "in Wirklichkeit" aussah. Das gelang ihm erst, nachdem er die Form mit seiner Tochter aus Ton modelliert hatte. Zu seiner noch größeren Überraschung stellte sich heraus, dass diese Form für Mathematiker und andere Geometrie-Experten völlig neu war – und also einen neuen Namen benötigte.

... und aus Ton gebastelt

Das kommt nicht alle Tage vor, sagte Koautor Javier Buceta dem Tech-Blog "Gizmodo". Es gehe zwar nicht um etwas ähnlich Fundamentales wie den Kreis oder das Quadrat, so der Systembiologe von der Lehigh University (US-Bundesstaat Pennsylvania), aber doch um eine Form, die man noch nie zuvor in der Natur beobachtet hat, obwohl sie dort doch allem Anschein nach massenhaft vorkommt.

Der Mathematiker und Vlogger Matt Parker unterbricht sogar seinen Urlaub in Sydney, um zu erklären, was es mit dem Scutoid auf sich hat. Sehenswert!
standupmaths

Laut der offiziellen Version, die sich in der Originalpublikation im Fachblatt "Nature Communications" findet, entschieden sich die Forscher dafür, das Scutoid nach dem Scutellum eines Käfers zu benennen. Der Käferthorax mit seinem dreieckigen schildartigen Teil sieht nämlich von oben betrachtet ähnlich aus wie ein Scutoid.

Ein Kupfer-Rosenkäfer mit dem sogenannten Scutellum, jenem dreieckigen Schildchen, nach dem das Scutoid benannt ist.
Foto: Zachi Evenor

Versteckte Reverenz

Mitentdeckerin Clara Grima, die als Mathematikerin beteiligt war, verriet im Interview mit Matt Parker auch noch die inoffizielle Version: Mit dem Namen wollte man auch Javier Escudero Reverenz erweisen.

Abgesehen von einer Bereicherung der Familie der prismaartigen Körper dürfte die Entdeckung auch praktische Bedeutung für die Biologie haben: Zum einen dürften Scutoide in allen möglichen Zellverbänden vorkommen, wie etwa im Fliegenauge. Zum anderen könnte das Wissen um die neue Form das Züchten von Organen erleichtern, so die Entdecker. (Klaus Taschwer, 18.8.2018)