"Meine Riviera war zu einem heiteren Inferno des Kapitalismus geworden": Kapka Kassabova.

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"Die letzte Grenze. Am Rand Europas, in der Mitte der Welt". Übersetzt von Brigitte Hilzensauer. € 26,- / 384 S. Zsolnay-Verlag, Wien 2018 (erscheint am 20. August).

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Sommer 1984, die südlichen Strände Bulgariens. Alle Vögel waren schon da, auch die Urlauber: solche, die wie wir aussahen, und die exotischen mit ihrem prächtigen Gefieder, ihren bunten Strandtüchern und ihrer Aura sexueller Freizügigkeit. Das Einzige, was den heißen Himmel verdunkelte, waren die räuberischen Möwen, die sich auf die kleinen Plastikbehälter mit salzigen frittierten Sprotten stürzten, die wir alle mampften.

Ich sehnte mich nach einem Abenteuer, gleich welcher Art. Wenn man an diesem Strand zu schwimmen begann und immer weiter südwärts schwamm, wie mein Vater, der stundenlang im Meer verschwand, vorbei an den Schwärmen riesiger Quallen, vorbei am Campingplatz und dem wegen seiner Nudisten und Künstlertypen, nicht wegen zahmer Familien, wie wir eine waren, berühmten Strand, dann landete man in der Türkei. Obwohl die Türkei auf derselben Seite des Schwarzen Meeres lag, befand sie sich auf der anderen Seite der Grenze, und Dinge, die das Wort Grenze, graniza, enthielten – sogar der Klang war schartig, wie das gra-gra der Möwen -, mied man am besten, das wusste sogar ich. Zum Beispiel bedeutete ins Ausland zu reisen "über die Grenze" zu gehen, also jenseits der Grenzen des Erlaubten, von wo es keine Wiederkehr gab. Tatsächlich wurden diejenigen, die fortgingen und nicht mehr wiederkehrten, Nicht-Rückkehrer genannt. Sie wurden in Abwesenheit verurteilt, und an ihrer Stelle hatten ihre Familien zu leiden.

Innerliches Grenzgefühl

Während es einem langsam dämmerte, warum die Grenze existierte (damit Leute wie wir nicht fortgehen konnten), entwickelte man langsam eine Art innerliches Grenzgefühl, wie eine Magenverstimmung. Ich war in diesem Sommer zehn Jahre alt, alt genug, um von Leidenschaft geschüttelt zu werden. Das Objekt meiner Begierde war ein älterer blonder Junge, auf Urlaub mit seinen Eltern. Wir waren aus Sofia gekommen, sie aus Berlin, und für zwei Wochen voller köstlicher Qual belauerten wir einander von unseren Badetüchern aus, umgeben von einem Hauch von Niveacreme und präpubertärer Sehnsucht. Aber der Mangel an Erfahrung wurde deutlich, und wenn er in der Schlange um Eiscreme hinter mir stand, groß und golden wie ein Apoll, vergaß ich jedes Wort Russisch – unsere gemeinsame Sprache -, das ich in der Schule gelernt hatte. Als seine Familie abreiste, weinte ich einen Tag lang. Wir waren doch so offenkundig füreinander bestimmt gewesen.

Was niemand von uns wissen konnte: Am Strand wimmelte es von spähenden Augen. Am stärksten konzentriert und in der prachtvollsten Umgebung im nahe gelegenen legendären Internationalen Jugendzentrum, wo dreißig Jahre lang die Hautevolee der Ostblock-Jugend zum Feiern hinkam und bei Schönheitswettbewerben, Neptunfesten und Musikabenden am Strand herumstolzierte. Das waren keine gewöhnlichen Strände. Das war die Rote Riviera, in den väterlichen Worten Chruschtschows das Schaufenster des kommunistischen Blocks; er war überzeugt, dass "die Freundschaft der Bulgaren zu uns besonders innig" sei. Hierher kamen Ost- und Westdeutsche, Norweger, Schweden, Ungarn, Polen und Tschechoslowaken, um sich am Goldstrand und Sonnenstrand, die in den 1960er-Jahren entstanden waren und bald zur einträglichsten Einkommensquelle für den Staat wurden, zu vergnügen. Denn dies war totalitärer Tourismus, und alles hier gehörte dem Staat, sogar der Sand.

Wir wohnten in einem illegal gemieteten Zimmer im Haus eines Einheimischen – illegal, weil nur staatliche Hotels reguläre Geschäfte tätigen konnten. Unser verschlafener Küstenort hieß Mitschurin, nach dem russischen Biologen, der das Saatgut revolutioniert hatte. In Mitschurin mit seinem Mittelmeerklima wurde ein durchgeknalltes Landwirtschaftsexperiment im Sowjetstil durchgeführt, bei dem Wissenschaftler versuchten, Eukalyptus und Gummibäume, Teepflanzen und Mandarinen zu züchten. Nun, das fruchtbare Land brachte bereits Walnüsse und Mandeln, Feigen und Weinreben hervor, aber es ging darum zu beweisen, dass der entwickelte Sozialismus alles kontrollieren konnte, vom Lauf der Geschichte bis zum Verhalten von Mikroorganismen.

Es war ein Ort, an dem jeder zweite Barkeeper im Dienst der bulgarischen Staatssicherheit stand, während eine speziell geschulte "Operationsgruppe" von KGB-, tschechischen und Stasi-Agenten, als Urlauber verkleidet, ein Auge auf die Hedonisten hatte. Bei den Einheimischen hießen die Ostdeutschen "Sandalen", da sie sich in ihren Sandalen und in Strandkleidung nachts vom Strand und in den dunklen Wald der gra-gra-graniza davonzustehlen pflegten, deren Name Strandscha lautete.

Ich vermisste meinen deutschen Schwarm, ohne zu ahnen, dass mein Sehnen von anderen Körpern am Strand, ebenfalls auf der Suche nach Partnern, repliziert wurde – für Abenteuer einer Nacht, für Handel, Geldwechsel, Ehe. Für eine Möglichkeit, die Grenze zu überqueren. Seit ihren Anfängen in den 1960er-Jahren war die Rote Riviera ein Menschenmarkt gewesen, wo das Bestgebot nicht für Liebe abgegeben wurde, sondern für Freiheit. Und der höchste Preis, den man entrichten konnte, war das Leben. Viele taten das.

Es war ein langer Weg vom Strand zur türkischen Grenze, und dieser Weg führte durch die bewaldeten Hügel von Strandscha, die einen mitternächtlichen Schatten über die sonnigen Badeorte warfen. Über Strandscha wussten wir bloß, dass es voller Bäche, Rhododendren und Reptilien war und dass in seinen Dörfern Feuerriten heimisch waren, bei denen die Leute auf glühenden Kohlen gingen. Verwirrenderweise war die Ausübung dieses Rituals vom Staat verboten – außer an offiziellen Orten wie dem Internationalen Jugendzentrum, wo die Feuergeher staatlich approbiert waren, ebenso wie die Tanzbären an Ketten, die dorthin gebracht wurden, um die Besucher zu unterhalten; das waren offizielle Bären. Wollte man Strandscha besuchen, benötigte man eine behördliche Genehmigung vom Innenministerium. In anderen Worten: Man durfte nicht hin.

"Warum dürfen wir nicht nach Strandscha?", fragte ich, als der deutsche Junge fort war und die Eiscreme ihren Geschmack verloren hatte.

"Wir haben dort nichts zu suchen", sagte mein Vater.

"Der Wald ist voller Soldaten", sagte meine Mutter.

Es gab eine Wand aus stromführendem Stacheldraht, so lang wie die Grenze. Wer den Wald betrat, konnte das für ihn bestimmte Warnsignal in den zwei Sprachen der Verzweiflung lesen:

War man aber weit genug gegangen, um dieses Schild zu lesen, nach Tagen und Nächten im Reptilienwald, weshalb hätte man dann umkehren sollen?

Wenn Unschuld das Gefühl ist, die Welt sei ein sicherer und gerechter Ort, dann begann ich in jenem Sommer die meine zu verlieren. Warum durften wir nicht der deutschen Familie nach Berlin nachreisen? Warum durften wir – oder, wenn wir schon dabei waren, die deutsche Familie – nicht in die Türkei fahren, die bloß ein Stück weiter küstenabwärts lag? Warum musste ein Deutscher in einem Heißluftballon über die Grenze fliegen, wie man munkelte, außer es stimmte wirklich? Weil wir in einem Freiluftgefängnis lebten. Ein Gefühl melancholischer Revolte begann aufzukeimen.

Sechs Jahre später mussten die "Sandalen" nicht so weit fahren, um zu entkommen, denn die Berliner Mauer war gefallen. Unsere Familie überquerte die Grenze – wenn auch nicht diese, sondern irgendeine andere imaginäre Grenze über dem Pazifik, auf dem Weg zu einem neuen Leben in Neuseeland, einem Ort, der von Stränden anderer Art geprägt war.

Es war neuerlich Sommer, als ich dreißig Jahre später wiederkam.

Am Flughafen in Burgas säumten Weingärten die Landebahnen, die Luft roch nach Benzin und baldigem Sex. Ich war mit einem Urlaubscharterflug aus Edinburgh gekommen, das Flugzeug war voller tätowierter Männer und Frauen mit grellem Lachen und Make-up. In Gesellschaft schwitzender, aufgeregter Russen, junger Skandinavier, pickelig vor Hormonen, blasshäutiger Familien aus anderen nördlichen Breiten betrat ich bulgarischen Boden. Aus dieser lebhaften Hafenstadt wurden die Konsumententouristen Europas wie Dosenfleisch in die pulsierenden Strandorte von Goldsand und Sonnenstrand verschickt. Meine Rote Riviera war zu einem heiteren Inferno des globalen Kapitalismus geworden.

Ich nahm einen Mietwagen und fuhr vorbei an den vielfarbigen Salzseen des Golfs von Burgas. Die erstickten Schreie von Pelikanen, Kormoranen und Eisvögeln, der Geruch nach reifenden Feigen, nach sandi-gem, lüsternem Niveasommer, die Kräne am Hafen, die Riesenschiffe wie bewegungslose Städte. Hier begannen die dunklen Berge von Strandscha.

Ich nahm die ruhige Uferstraße, die ich zuletzt vor dreißig Jahren aus dem Fond des Familien-Skoda gesehen hatte. Bevor die Straße sich landeinwärts wandte, blieb ich in der letzten Küstenstadt stehen: dem verschlafenen Mitschurin meiner Kindheit. Aber es hatte seinen alten Namen Zarewo wieder angenommen, und einen Moment lang konnte ich es auf der Karte nicht finden, denn für mich bleibt es für immer Mitschurin. Die Versuche, Eukalyptus und Gummibäume anzubauen, waren lange vorüber, man war wieder bei den einheimischen Feigen und Weinreben, Mandeln und Walnüssen gelandet. An der Straße in die Stadt saßen kurzbehoste Männer und Frauen auf Hockern und hielten handgeschriebene Tafeln: "Zimmer zu vermieten". In den Tagen der Roten Riviera hätten sie als "Freibeuter" festgenommen werden können.

Am Hafen aß ich einen Teller gegrillte Sprotten. Kinder hüpften kreischend ins Wasser, und alles schmeckte nach Tränen. Aber ich war wegen des lange verbotenen Strandscha gekommen, nicht wegen des Meeres. Ich riss mich zusammen und fuhr weiter.

Strandscha: Man wusste, dass man drinnen war, wenn der Verkehr plötzlich aufhörte und der Wald einen umfing. Die Straße wurde löchrig und in Dschungelgrün gehüllt, das Grün war voller moosiger Lagunen und megalithischer Steinheiligtümer, die einst dionysischen Kulten gedient hatten. Die einzigen Verkehrsteilnehmer, die ich sah, waren ein Zigeunerpaar, das sich auf einem Pferdekarren vorbeizwängte und strahlend goldzahnlächelte, als sei alles gut. Vier schwarze sattellose Pferde trotteten vor mir her und begannen zu galoppieren, als sie den Motor hörten. Sie trennten sich, um meinen Wagen durchzulassen, und schlossen sich hinter mir zusammen wie in einem Stummfilm.

Mein Ziel war ein Grenzdorf in einem Tal, wo ich einige Zeit verbringen und die Gegend erkunden wollte. Verwirrt vom unübersichtlichen Straßennetz und schief stehenden Wegweisern, die in die Wildnis zeigten, verirrte ich mich. Als ich auf der verlassenen Straße anhielt, um im Kofferraum eine Wasserflasche zu suchen, hörte ich das Knacken von Zweigen und ging nachschauen – immer eine schlechte Idee. Im Wald spürte ich, wie von allen Seiten etwas näher rückte. Mückenartige Fliegen krochen mir in Nase und Mund, und als ich zum Auto zurücklief, trat ich beinahe in ein Nest mit quicklebendigen Kreuzottern. Mit klammen Händen fuhr ich weiter. (Kapka Kassabova, 19.8.2018)