Die Menschenrechte schützen die Selbstbestimmung jedes Menschen, seinen oder ihren eigenen Lebensentwurf frei und selbstbestimmt zu gestalten und zu verwirklichen. Sie stellen keine exklusiven "Peter-Kirchschläger-Rechte" dar. Mit den Menschenrechten korrespondiert gleichzeitig die Pflicht, nicht nur sich selbst, sondern alle Menschen als Trägerinnen und Träger der Menschenrechte zu respektieren. So handelt es sich zum Beispiel bei der eigenen Freiheit um keine absolute Freiheit, sondern um eine Freiheit, die im Einklang mit der Freiheit und mit den Menschenrechten von allen anderen Menschen stehen muss. Diversität wird so durch die Menschenrechte zum einen geschützt und gefördert. Zum anderen erhält sie klare Grenzen.

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Foto: REUTERS/Antonio Parrinello

Gesellschaftliches Wahrnehmungsproblem

Realitäten der Vielfalt können auch dazu missbraucht werden, Ängste zu schüren und Diversität negativ zu konnotieren. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Verwendung der Begriffe "Masse" und "Krise" in Europa in Zusammenhang mit Flucht und Migration. Diese Begriffsverwendung deutet auf ein gesellschaftliches Wahrnehmungsproblem hin. Denn Migration umfasst für die Zielländer auch ökonomische Chancen – etwa als Ursprung von Unternehmertum, Diversität als Quelle von Innovation oder Beitrag zur Lösung des Problems des demografischen Wandels –, sodass die negative Konnotation deplatziert ist.

Zudem kann im europäischen Kontext keine Rede von Masse sein. Denn es kommen nur ein bis zwei Prozent der weltweit sich in Migrationsbewegungen befindenden Menschen nach Europa. Die große Mehrheit bewegt sich binnenstaatlich oder in direkte Nachbarländer. Des Weiteren ist die Anzahl Menschen, die nach Europa kommt, ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von Europa zu setzen, was ihre bescheidene statistische Relevanz verdeutlicht. Hinzu kommt noch die zu hinterfragende wirtschaftliche Bedeutung der mit Migration verbundenen Kosten im Verhältnis beispielsweise zu den jährlichen fünfzig bis siebzig Milliarden Euro Mindereinnahmen in der EU aufgrund von Steuervermeidung durch Konzerne. Außerdem erweist sich die ökonomische Bedeutung von Menschen in Migration oder auf Flucht in Europa als viel zu klein, um ihnen alle möglichen Probleme in die Schuhe zu schieben, wie dies heute gerne getan wird. Vielleicht kann schließlich den europäischen Blick auf Flucht und Migration auch schärfen, dass das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge 1951 gegründet worden ist, um sich um die damals mehrheitlich aus Europa kommenden Flüchtlinge zu kümmern.

Die Menschenwürde aller Menschen lässt den dringenden Handlungsbedarf im Bereich Flucht und Migration erkennen. Menschenrechtliche Ansprüche von Menschen auf der Flucht oder in Migration werden heute von mehreren europäischen Ländern verweigert. Dies ist inhuman und unchristlich. Höchste Priorität sollte der Schaffung von sicheren Migrations- und Fluchtwegen zukommen. Denn es lässt sich mit der Menschenwürde nicht vereinbaren, dass Menschen in Migration oder auf der Flucht geschlagen, missbraucht und vergewaltigt werden. Zudem gilt es, die Ursachen von Flucht und Migration anzugehen: Konflikte, Armut und Elend.

Liberales Denken kann nicht bei Migration aufhören

Aber solche Veränderungen brauchen Zeit. Wer unter Menschenrechtsverletzungen leidet, hat diese Zeit nicht, sondern benötigt jetzt eine Lösung. Auch für jene, die sich aus wirtschaftlichen Gründen auf den Weg machen, muss gesamteuropäisch eine Lösung gefunden werden. Liberales Denken kann nicht bei der Migration aufhören. Ist es legitim, dass die sogenannte EU-Außengrenze gegen Menschen militarisiert wird, während Güter grenzenlos verschoben werden? Lassen sich ökonomische Globalisierung und migrationspolitische Abschottung kombinieren? Soll wie einst in einer Feudalherrschaft menschenwürdiges Leben vom Geburtsort beziehungsweise vom Pass abhängen?

Darüber hinaus braucht es aus ethischer Sicht keine punktuellen Feuerlöschaktionen, um Konflikte, Armut und Elend zu beenden. Es braucht vielmehr wirtschafts- und handelspolitische Grundsatzentscheidungen und Maßnahmen, um die massive globale Ungleichheit zu überwinden und kolonialistische und imperialistische Muster loszuwerden. Seit 1990 hat weltweite Armut zum Tod von 450 Millionen Menschen an armutsbedingten Ursachen geführt. Papst Franziskus hebt in seiner Enzyklika "Laudato Si’" zurecht hervor, dass "die Ausgeschlossenen […] der größte Teil des Planeten, Milliarden von Menschen" sind.

Es ist ethisch inakzeptabel, wenn beispielsweise europäische Regierungen Diktatoren unterstützen, um den eigenen Zugang zu Rohstoffen zu sichern, und die europäische Rüstungsindustrie zur Niederschlagung von Demokratiebewegungen in totalitären Systemen beiträgt. Warum können multinationale Konzerne Gewinn vor allem auch mit Rohstoffen beispielsweise aus der Demokratischen Republik Kongo erzielen, ohne den Profit aus Bodenschätzen im Herkunftsland, einem der weltweit ärmsten Staaten, zu versteuern? Wie viel Sklaverei begleitet uns täglich in unseren Handys, Laptops oder T-Shirts?

Wertekohärenz und Resilienz

Natürlich müssen – im Bereich von Flucht und Migration wie in anderen Bereichen – allfällige Probleme beim Namen genannt werden, damit sie gelöst werden können. Nur wäre Wertekohärenz sowie eine höhere Differenzierung im Zuge der Identifizierung von Chancen und Risiken von Nöten. An dieser Stelle lassen sich wesentliche Charakteristika des Begriffs "Resilienz" und inhaltliche Verbindungen zur Diversität erschließen.

Mit Resilienz wird die Fähigkeit bezeichnet, Krisen zu meistern und sie als Ausgangspunkt für die persönliche Entwicklung zu verwenden, indem persönliche und soziale Mittel eingesetzt werden. Zu letzteren gehören unter anderem eigene Werte und ein zu ihnen kohärentes Verhalten.

Beispiel Bildung

Es erweist sich zum Beispiel als wertekohärent, auf der Basis des Menschenrechts auf Bildung nicht etwa den hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund an einer Schule, ihre möglicherweise fehlenden Deutschkenntnisse oder ihre möglicherweise illiberalen Wertvorstellungen zu problematisieren. Vielmehr gilt es als eigentliches Problem zu erkennen, dass im Zuge politischer Entscheidungen die vorhandenen Ressourcen nicht entsprechend verteilt werden, um Schülerinnen und Schüler angesichts ihrer spezifischen Charakteristika adäquat zu fördern – etwa mit Sprachkursen, Inklusionsmaßnahmen, politischer Bildung, Menschenrechtsbildung.

Die Schwierigkeiten bilden also der Mangel an dafür zugewiesenen finanziellen Mitteln, nicht die Schülerinnen und Schüler selbst. (Beispielsweise wird ja im Falle der Förderung von Kindern mit Legasthenie zu recht nicht deren Präsenz in der Schule beziehungsweise deren Anzahl zum "Problem" deklariert, sondern die Wahl der geeigneten Förderungsmethoden und deren Finanzierung im Zentrum stehen.)

Jedes Individuum soll in seiner Eigenheit, Freiheit und Selbstbestimmung – und somit Diversität – geschützt werden. Gleichzeitig sind Wirklichkeiten nicht einfach passiv hinzunehmen. Vielmehr sollen durch die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung in Wertekohärenz Realitäten aktiv gestaltet werden. (Peter G. Kirchschläger, 26.8.2018)